Die EG-Umweltpolitik bleibt ein trübes Kapitel

Vor dem Umweltgipfel in Rio überschlagen sich die Ankündigungen von EG-Initiativen/ Doch konkrete Maßnahmen, wie die von Umweltgruppen geforderte Ökosteuer, scheitern an den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Stinkend braune Brühe sprudelt aus zwei gigantischen Rohren. Auf der dampfenden Kloake bläht sich gelblicher Schaum, wabert über Bierdosen und Tierkadaver. Tampons tanzen für einen Augenblick auf kotbeschwerten Wellen, um dann ihre Reise in die weite Welt anzutreten. Durch Industrie- und Wohngebiete strömt es — an einem Krankenhaus vorbei, dessen Fenster wegen des Gestanks nicht geöffnet werden können. Keine Kläranlage hindert die freie Fahrt über Senne und Schelde bis in die Nordsee. Schließlich handelt es sich um die gesammelten Abwässer der inoffiziellen Hauptstadt Europas, wo grenzenloser Verkehr zum obersten Glaubenssatz erhoben wurde.

Am Arsch Brüssels erschließt sich mit einem Blick die traurige Wirklichkeit EG-Europas. Schon heute gehört die Gemeinschaft zu den Hauptverschmutzern der Erde. Durch den grenzenlosen Handel nach 1992 soll alles noch viel schlimmer werden, wie Berichte der EG- Kommission drastisch belegen. Nun wollen die Eurokraten den Binnenmarkt schnell noch umweltfreundlich und lebenswert gestalten.

Dies, so ihre gewagte These, ließe sich jedoch — aus Konkurrenzgründen — nur im Konzert mit den anderen Umweltverschmutzern bewerkstelligen. Grund genug für die EG, sich beim Umwelt-Gipfel Anfang Juni in Rio de Janeiro zum Schrittmacher aufzuschwingen.

Imagepflege liegt den Eurokraten mehr

Doch nicht einmal in ihrer Heimatstadt gelingt die Umsetzung des ehrgeizigen Programms. Statt sich um die eigenen Probleme zu kümmern, so wissen Brüsseler Umweltgruppen, engagieren sich die Eurokraten lieber auf globaler Ebene. Eine günstige Gelegenheit für Imagepflege bietet die Konferenz in Rio.

Und so liefern sich Eurokraten und Umweltminister im Vorfeld des „Erdgipfels“ einen regelrechten Initiativen-Wettstreit: Die vor drei Jahren vom Chef der EG-Kommission, Jacques Delors, höchstpersönlich vorgeschlagene Umweltagentur soll doch noch eingerichtet werden. Die Steuerkommissarin Christiane Scrivener will die steuerliche Förderung der nachwachsenden Rohstoffe als Maßnahme gegen den Treibhauseffekt verstanden wissen. Umweltkommissar Carlo Ripa di Meana droht gar, Rio zu boykottieren, sollte der in der EG alles entscheidende Ministerrat nicht seinem Vorschlag für eine Umweltsteuer zustimmen.

Wie die Dinge stehen, wird er wohl zu Hause bleiben müssen. Denn die Minister der Gemeinschaft, die für Entwicklungshilfe und Umwelt zuständig sind, haben zwar letzte Woche das Ziel bestätigt, den Ausstoß von Kohlendioxyd bis zum Jahr 2.000 auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren. C02 gilt als wichtigstes der sogenannten Treibhausgase.

Wie dies allerdings in die Tat umgesetzt werden soll, sagten sie nicht. Angeblich verhinderten die Spanier und Briten eine Einigung. Sie bezogen sich im wesentlichen auf Ripa di Meanas Vorschlag, bis zum Jahr 2000 auf den Ölpreis von gegenwärtig etwa zwanzig Dollar zehn aufzuschlagen. Bereits Anfang nächsten Jahres sollten die Europäer drei Dollar mehr für jedes Faß Öl berappen. Dieser Betrag wäre dann jedes Jahr um einen Dollar erhöht worden. Nach dem Verursacherprinzip sollten sowohl private Haushalte und die Autofahrer als auch die Industrie zur Kasse gebeten werden.

Binnenmarktkommissar Martin Bangemann und seine Kollegin Scrivener reden lieber freiwilligen Beschränkungen der Industrie das Wort. Auflagen oder gar Ökosteuer halten sie für Quatsch. Ihre Argumente haben sich durchgesetzt: Am Mittwoch gab die EG-Behörde bekannt, nur im Verein mit den anderen OECD-Ländern eine Umweltsteuer einführen zu wollen — exakt die Forderung der Industrielobby. Die Vertreter der Chemie-, Stahl-, Aluminium-, Glas- und Keramikindustrie ließen in den letzten Wochen und Monaten keine Gelegenheit aus, vor den wettbewerbsverzerrenden Folgen einer „einseitigen“ Klimasteuer zu warnen.

Unterstützung finden die Industrievertreter vor allem bei den südlichen Mitgliedsregierungen, insbesondere Spanien. Sie wollen mit den entwickelteren Ländern im Norden wirtschaftlich gleichziehen; dafür brauchen sie zumindest während einer Übergangsphase erst einmal mehr und nicht weniger Energie. Als Ausgleich sollen deshalb die nördlichen Staaten mehr Energie sparen und ihre Emmissionen stärker drosseln, so daß die EG-Länder zusammen die versprochene Stabilisierung im Jahre 2000 erreichen.

Eine Rechnung, die nicht aufgeht

Daß diese Rechnung wohl kaum aufgehen wird, zeigt schon das deutsche Beispiel: Die Bonner Regierung will den deutschen C02-Ausstoß bis zum Jahre 2005 um 25 bis 30 Prozent verringern. Angesicht der eingeleiteten Maßnahmen wird der C02-Ausstoß im vereinten Deutschland bis zum Jahre 2005 allerdings höchstens um zehn Prozent sinken, im Gebiet der alten Bundesrepublik sogar um sieben Prozent zunehmen. Zu diesem Ergebnis kommen jüngste Untersuchungen des Schweizer Prognos-Instituts und der in Bonn ansässigen Initiative „Germanwatch“.

Außerdem: Schon der angestrebte Aufschlag auf den Energiepreis von zehn Dollar bis zum Jahre 2000 ist nach Ansicht vieler europäischer Umweltverbände zuwenig. Sie fordern eine Verdoppelung des jetzigen Ölpreises von knapp zwanzig Dollar, „damit erneuerbare Energieträger auf dem Markt konkurrenzfähig werden“.

240 Milliarden DM — fast das Doppelte des momentanen EG- Haushalts — kämen so jährlich zusammen, eine Menge Geld, mit dem alternative Energieformen weltweit gefördert werden könnten. Während das Kommissionskonzept vorsieht, die Einnahmen aus den Ökosteuern ohne Auflagen an die Mitgliedsländer zurückzugeben, wollen die meisten Umweltverbände zumindest einen Teil der Gelder der Umweltabteilung der EG-Behörde zuschlagen. Die könnte dann erneuerbare Energieformen auch in Osteuropa und der Dritten Welt fördern.

Das geht den EG-Mitgliedstaaten allerdings zu weit. In Brüssel hofft man statt dessen, durch die Wirbelpolitik in Sachen Umwelt kaschieren zu können, daß auch sonst kaum einer der Vorschläge Chancen hat, von der EG selbst verwirklicht zu werden.

So hatten die zwölf Staats- und Regierungschefs zwar bereits vor knapp zwei Jahren die Schaffung einer europäischen Umwelt-Datenbank beschlossen. Sie soll dringend nötige Umweltinformationen grenzübergreifend sammeln und vergleichbar machen. Doch der Streit um den Sitz der Behörde — ob Madrid, Straßburg oder Kopenhagen — verhinderte bislang die Umsetzung dieser Entscheidung.

Schließlich schlug Umweltkommissar Ripa di Meana vor, die Treffen des Direktoriums rotieren zu lassen. Die Behörde selbst könnte bis auf weiteres von Brüssel aus operieren. Bislang jedoch hat Paris jede Entscheidung über die Umweltagentur abgelehnt, solange nicht die europäische Hauptstadtfrage eindeutig zugunsten des elsässischen Straßburg entschieden ist.

Welchen taktischen Stellenwert die Umwelt in der EG-Politik hat, zeigt sich auch bei der C02-Quelle Verkehr. Mit der Öffnung der Binnengrenzen Ende dieses Jahres wird das Verkehrsaufkommen vor allem auf den Straßen bis zur Jahrtausendwende um über 40 Prozent zunehmen, prognostizierte der belgische EG-Kommissar van Miert. Folge: Statt ungehindert zu florieren, könnte der europäische Handel zum Erliegen kommen.

Um den Binnenmarkt also vor dem Verkehrsinfarkt zu retten, schlägt die Kommission in ihrem Grünbuch „Umwelt und Verkehr“ vor, die anderen Verkehrsträger Bahn, Binnen- und Seeschiffahrt „jetzt systematisch“ einzubinden und auszubauen. Außerdem soll der Straßenverkehr stärker an den Kosten beteiligt werden, den er verursacht. In welcher Höhe und Form wollte der Kommissar noch nicht kundtun.

Doch es wird wohl noch dauern, bis sich die EG auf eine gemeinsame Verkehrspolitik einigen kann. Die Fernfahrernation der Niederländer habe zum Beispiel überhaupt kein Interesse daran, den LKW-Verkehr teurer zu machen, weiß der Dortmunder Verkehrsexperte Helmut Holzapfel. „Bei denen spielt der Güterverkehr mit der Bahn ja so gut wie keine Rolle.“ Schwierigkeiten wird es auch geben, weil Investitionen im Infrastrukturbereich, so die Faustregel, in der Regel frühestens nach zehn Jahren greifen.

Selbst dann wäre jedoch eine Erleichterung für Mensch und Umwelt noch nicht erreicht. Dazu müßte schon eine Reduzierung des Straßenverkehrs durchgesetzt werden. Dies allerdings steht nicht auf dem Programm der EG. Statt dessen möchte man das umweltschädliche Erdöl als wichtigste Energiequelle durch sogenannte nachwachsende Rohstoffe ersetzen, die angeblich klimaneutral Mobilität erlauben.

EG-Undemokratie verhindert Umweltschutz

Extra dazu plant EG-Kommissarin Scrivener eine neunzigprozentige Steuererleichterung für den Anbau von ölhaltigen Pflanzen wie Raps. Dann könnten in der EG statt überschüssiger Lebensmittel Energiepflanzen angebaut werden. Gegen diesen Traum gibt es allerdings nicht nur ökonomische, sonder auch starke ökologische Bedenken.

Anspruch und Wirklichkeit fallen in der Gemeinschaft offensichtlich weit auseinander. Müßte also nicht, um wirklich Umweltpolitik betreiben zu können, an den Fundamenten des EG-Konstrukts gerüttelt werden? Dies sieht auch Ripa di Meana so. Neben der nationalen müsse vor allem die EG-Umweltpolitik gestärkt werden. Dies werde jedoch durch den undemokratischen Charakter der EG-Institutionen verhindert.

In der Tat sind es nicht die Abgeordneten des Europaparlaments, sondern die Minister der EG-Mitgliedsländer, die in Brüssel hinter verschlossenen Türen beschließen, was alsbald EG-weit Gesetz wird. Dabei entscheiden sie in Binnenmarktfragen mit qualifizierter Mehrheit. Bei anderen Streitpunkten wie dem Umweltschutz ist auch nach den Maastrichter Reformen meist noch Einstimmigkeit erforderlich.

So können Regierungen wie Großbritannien, Griechenland oder Spanien Umweltgesetze blockieren, haben sie bislang doch wenig Interesse an einer gesünderen Umwelt gezeigt. Von Vorteil für die Minister ist dabei, daß sie in der internationalen Gemengenlage kaum haftbar gemacht werden können. Denn — und das versteht sich von selbst — Schuld für die zu laschen Beschlüsse ist immer ein anderer.

Aber auch in der 16.000köpfigen EG-Behörde ist man weit davon entfernt, Umweltschutz zu einem integralen Bestandteil der Politik zu machen. Der für Wettbewerb zuständige Kommissar Sir Leon Britan findet es beispielsweise lachhaft, bei seiner Freihandelspolitik Umweltaspekte zu berücksichtigen. Obergrenzen für Flüge in der EG zum Schutze der Ozonschicht kommen für ihn nicht in Frage, würden sie doch das ganze Binnenmarktkonzept in Frage stellen.

Selbstbeschränkung bleibt ein Fremdwort

Ähnlich agieren die EG-Strukturpolitiker, die den armen Regionen der Gemeinschaft Fortschritt und Wohlstand bringen sollen. Mit den Milliarden aus Brüssel werden jedoch gegen jede ökologische Vernunft Monokulturen und Autobahnen, Staudämme und Industrieanlagen gefördert.

Ein Widerspruch, der das ganze Dilemma der EG-Umweltpolitik offenbart? Selbstbeschränkung steht nicht hoch im Kurs — weder bei der Industrie noch bei Europas Bürgern. Und für die EG-Binnenmarktstrategen ist der Begriff sowieso ein Fremdwort. Aber während Minister und Eurokraten noch diskutieren, ist der Großversuch mit der Erdatmosphäre längst im Gange.

Selbst wenn Sparmaßnahmen durchgesetzt würden, wird der C02-Ausstoß bis zum Jahre 2040 um vierzig bis siebzig Prozent zunehmen — je nach Wirtschaftswachstum. Konsequenz: Es wird weltweit durchschnittlich um zwei bis fünf Grad wärmer — ein rapider Temperaturwechsel, wie ihn die Ökosysteme des Planeten Erde noch nicht erlebt haben.

Folge: Der Meeresspiegel wird sich erhöhen, 30 Zentimeter sagen Wissenschaftler für die nächste Zeit voraus. Um zwei bis vier Meter soll er nach diesen Berechnungen sogar im Laufe des nächsten Jahrhunderts steigen. Zeit genug also für die Brüsseler Eurokraten, sich eine höher gelegene Hauptstadt zu suchen. Investitionen in eine Kläranlage, so die logische Folgerung, lohnen sich da nicht mehr.