Leichen schwimmen die Donau hinab

Die ungarische Minderheit in der Vojvodina wird angesichts des Krieges zum Stillhalten gezwungen  ■ Aus Novi Sad Roland Hofwiler

Es sind einfache Holzkreuze auf blumenlosen Erdhügeln. Darauf zwei Buchstaben und eine Nummer. Stets in weißer Farbe. „N N“ für „Nepoznat“, für „Unbekannt“. Dahinter eine Zahl. Im Stadtfriedhof der Provinzhauptstadt Novi Sad zählt man bereits die Nummer 875. Achthundertfünfundsiebzig Leichen, angeschwemmt von der Donau. Trotz Waffenruhe im kroatischen Ostslawonien trägt die Donau Leichen. Die Totengräber berichten: „Fast täglich bergen wir einen Toten. Wie viele Tote muß es da erst in der Drina und Neretva geben?“

In der Hauptstadt der ehemals autonomen Region Vojvodina in Serbien merkt man auf den ersten Blick wenig davon, daß fünfzig Kilometer flußaufwärts der Donau, im kroatischen Vukovar und in Vinkovci, heftig geschossen wird. Und kaum jemand spricht davon, daß achtzig Kilometer südlich, hinter den Hängen des Fruska-Gore-Bergmassivs, der blutige Krieg um Bosnien tobt. Die Flüchtlinge aus Vukovar oder aus dem bosnischen Bijeljina, die sich nach Novi Sad verirrten, fallen im Stadtbild nicht auf. Sie sind bei Bekannten oder einfach bei hilfsbereiten Menschen untergekommen, fast untergetaucht.

„Wer klug ist, der taucht unter, zumindest als Mann“, erzählt Laszlo, Redakteur beim „Radio Uj Videk“, dem ungarischsprachigen Radio von Novi Sad, der besonders im Norden der Region, wo die Ungarn in der Mehrheit sind, gehört wird. Laszlo ist zu alt, um noch als Soldat eingezogen zu werden, aber er kennt junge Männer, die an die Front abkommandiert wurden. Auch in diesen Maitagen noch. „Offiziell heißt es, sie müssen irgendwohin nach Südserbien, um dort ihren regulären Militärdienst abzuleisten, doch dann hören die Angehörigen einfach nichts mehr von ihnen — und können nur bangen“, erzählt Laszlo und legt einen Stapel von Protokollen auf den Tisch. Laszlo sammelt die Fallbeispiele, um sie Menschenrechtsorganisationen weiterzuleiten und sie gegebenenfalls auch publik zu machen. Viele Angehörige wollen das jedoch nicht. „Vor allem wir Ungarn haben Angst, sollten serbische Freischärler auf die Idee kommen, auch uns zu vertreiben, sind wir schutzlos.“

Laszlo ist verbittert. Er stellt den Vergleich mit dem Ungarnaufstand von 1956 an: „Damals hat Europa Budapest im Stich gelassen, die Russen hatten freie Hand. Und jetzt? Wer stoppt Milosevic und seinen Krieg? Wer nimmt wahr, daß er ein Großserbien errichten will, ohne Kroaten, ohne Muslimanen, Albaner und Ungarn?“ Selbst auf Deutschland ist der Radiojournalist nicht gut zu sprechen. Er weist auf die Akte des Ungarn Robert Barat: Auf die Welt kam Barat am 2.8. 1970 in Hamburg als Kind jugoslawischer Gastarbeiter. Er ging dort zur Schule. Doch bevor er auf eine Uni wechseln konnte, kam ein Bescheid der deutschen Behörden. Erst müsse Robert in seiner Heimat den Wehrdienst ableisten, dann dürfe er wiederkommen. „Das war im Sommer, als Belgrad Slowenien bereits den Krieg erklärt hatte... Welche Heimat war es denn für ihn? Seine Eltern waren Ungarn aus der Vojvodina, er fühlte sich als Deutscher, und dennoch, er wurde in die serbische Armee gesteckt. Ohne Kriegserfahrung an die Front verfrachtet. Und erschossen.“ Robert Barat starb am 2.August 1991 in Mirkovci bei Vukovar.

Das ist kein Einzelfall. Nenad Canak ist einer der wenigen mutigen Serben, die sich gegen Belgrad stellen. Als Vorsitzender der „Sozialdemokratischen Partei der Vojvodina“ verlangt er den Autonomiestatus zurück, den die Provinz ähnlich wie das albanisch besiedelte Kosovo bis 1989 innerhalb Serbiens hatte. Aber er sieht dafür keine Hoffnung. „Europa hat damals den Putsch der Belgrader Politiker hingenommen, als wäre nichts geschehen, und doch war es der Auftakt zum Krieg“, erzählt Canak, der sich vor keiner Repression mehr fürchtet. Morddrohungen flattern ihm sowieso täglich ins Haus. Im Herbst wurde auch er als 43jähriger zwangsrekrutiert und an die Front geschickt, aber er kam schnell wieder frei. In seinem Fall reagierte die Öffentlichkeit und setzte das Belgrader Regime unter Druck. „Aber nur, weil ich schon einen Namen hatte und es zu offensichtlich war, warum man mich an die Front als Kanonenfutter schickte. Die Kosovo-Albaner gelten den Herren in Belgrad als das bessere Kanonenfutter, hier in der Vojvodina sind wir noch vom Terror verschont — aber niemand gibt uns die Garantie für wie lange.“

Von zwei Millionen Einwohnern der Vojvodina sind 1,1 Millionen Serben, 400.000 Ungarn und 200.000 Menschen, die sich bei der letzten Volkszählung nicht national einordnen lassen wollten. Hinzu kommen noch 100.000 Kroaten, Slowaken, Rumänen und Roma-Zigeuner. Einzige Amtssprache ist mittlerweile serbisch, die einzige offizielle Amtsschrift kyrillisch. Selbst im Paß müssen ungarische und kroatische Namen nun mit kyrillischen Buchstaben geschrieben werden. Schulunterricht in den Minderheitensprachen wird nun nur noch stundenweise erteilt, Fernseh- und Radiosendungen für die Minderheiten beschnitten. Alle Führungsämter sind mit Serben besetzt, ob bei der Polizei, in den Stadtverwaltungen, den Schulen oder staatlichen Fabriken.

Mauerinschriften in Novi Sad sprechen für sich: „Serbien erwache, Autonomisten an die Wand.“ Doch noch läuft das Leben relativ normal ab. Selbst Flüchtlinge fallen nicht auf. Und die wenigen Polizeistreifen mit Sturmgewehren auf dem Rücken scheint niemand zu beachten. Ab und an fragen Zivilisten nach den Papieren. Mladen, ein Rockmusiker, ist nicht der einzige, der sich in den letzten Wochen eine neue Identität zulegte. Rock spielt er keinen mehr, die Punkfrisur hat er sich abschneiden lassen, die Jeans im Schrank versteckt. Jetzt spielt er abends im Luxushotel auf der alten Festung Petrovardin zum Tanz auf. Tagsüber lungert er an der Bar herum. „Was soll ich sonst machen, so hab' ich wenigstens einen ehrbaren Arbeitsplatz und fall' nicht auf.“ Einige seiner Freunde wurden wegen Störung der öffentlichen Ordnung in den Knast gesteckt und dann eingezogen.