INTERVIEW
: Der neue Kompromiß zur Fristenlösung ist durchaus verfassungskonform

■ Im Gegensatz zu Benda hält Strafrechtlerin Frommel den neuen Gesetzentwurf für verfassungsgemäß/ Dennoch führt er im Süden der Republik zu Abtreibungstourismus

Ende letzter Woche präsentierten SPD und FDP ihren Kompromiß einer Fristenregelung. Dieser siebte Gesetzentwurf zur Neuregelung des Abtreibungsrechts, der von Abgeordneten der CDU und des Bündnis 90/Grüne unterstützt wird, sorgte sofort für laute Rufe der CSU nach der Verfassungsmäßigkeit. Auch Ernst Benda, der 1975 als Präsident des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich daran beteiligt war, daß die Fristenlösung als verfassungswidrig abgelehnt wurde, hält den jetzigen Kompromiß immer noch für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz. Monika Frommel, Professorin für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität Frankfurt/M., wurde, wie Benda, als Sachverständige im Sonderausschuß des Bundestages zum Paragraph 218 gehört.

taz: Inwiefern ist das Verfassungsgerichtsurteil von 1975 für die heutige Rechtsprechung noch relevant? Kann in Karlsruhe noch in gleicher Weise argumentiert werden wie vor nunmehr 17 Jahren?

Monika Frommel: Das Bundesverfassungsgericht kann seine Rechtsprechung ändern. Diese „ständige Rechtsprechung“ des BVerfG bedeutet, daß das Urteil von 1975 keine Bindungswirkung für den Gesetzgeber hat. Damals wurde in Karlsruhe die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Frau nur sehr knapp und äußerst einseitig behandelt, nämlich nur unter dem Aspekt der allgemeinen Handlungsfreiheit, also einem relativ schwachen Grundrecht. Nicht erörtert wurde 1975 das Persönlichkeitsrecht. Außerdem vernachlässigten die Karlsruher Richter bei ihrer Erörterung Artikel 1 des Grundgesetzes, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist. Es wurde auch nicht darauf eingegangen, daß es so etwas wie eine gerichtlich überprüfbare Gewissensentscheidung nicht geben kann, wenn die Entscheidung für den Schwangerschaftsabbruch eine Gewissensentscheidung ist.

Ich denke, daß spätestens mit dem Volkszählungsurteil und dem damit gegebenen Schutz des Persönlichkeitsrechts das Urteil veraltet ist. Seit Mitte der 80er Jahre hätte der Rechtsprechungswandel dazu führen müssen, daß man auch den Schwangerschaftsabbruch verfassungsrechtlich anders diskutiert.

Inwiefern ist der derzeit gültige Paragraph 218 Ihrer Meinung nach noch verfassungskonform?

Ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und eine gerichtliche Überprüfung der Gewissensentscheidung einer Frau bedeutet, daß im Normalfall ein Zwang zur Mutterschaft besteht. Das halte ich unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsrechts der Frau und ihrer Würde für verfassungsrechtlich bedenklich.

Ernst Benda vertritt die Auffassung, das Recht des werdenden Lebens auf Schutz sei eine derart fundamentale Frage, daß sie auch von einem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse unberührt bleibe. Inwiefern kann und muß die Veränderung der gesellschaftlichen Realität auf die Rechtsprechung und die Verfassungswirklichkeit Einfluß nehmen?

Untersuchungen des Max-Planck-Instituts in Freiburg haben ergeben, daß sich Frauen durch eine soziale Beratung in ihrer Entscheidung so gut wie nie umstimmen lassen. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Frauen legt Wert auf eine Entscheidungshilfe. Das bedeutet, daß die Zwangsberatung im wesentlichen wirkungslos ist. Rechtsvergleichend wissen wir darüber hinaus, daß Strafrecht keinen Einfluß auf die Häufigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen hat.

Für das gewichtigste Argument halte ich allerdings die Tatsache, daß in den neuen Bundesländern eine Fristenregelung galt. Die jetzige Einschränkung dieser Fristenregelung, wie sie der Kompromißentwurf vorsieht, heißt ganz konkret: Für einen großen Teil der Bevölkerung verschlechtert sich die Rechtslage. Damit entsteht so etwas wie eine faktische Beweislastumkehr. Man müßte, mit Blick auf die neuen Bundesländer, nachweisen können, daß eine Fristenlösung ohne Beratungspflicht wirkungslos zum Schutz des ungeborenen Lebens ist. Doch diesen Nachweis kann niemand führen. Das heißt, mit dem Einigungsvertrag hat sich die gesellschaftliche Realität so verändert, daß ein neues Recht und eine neue verfassungsrechtliche Würdigung angebracht sind.

Der Kompromißentwurf sieht vor, daß jedes Bundesland wohnortnahe Beratungsstellen bereitstellen soll. Der Gesetzentwurf sagt aber auch deutlich: „Die Länder regeln das Verfahren.“ Halten Sie diese Formulierung für ausreichend, um das Nord-Süd-Gefälle in der BRD bezüglich der Beratungspraxis aufzuheben?

Diese Erwartung halte ich für unberechtigt. Der jetzige Kompromiß wird an der landesrechtlichen Lage in Bayern fast nichts ändern. Das heißt, in einigen südlichen Bundesländern, auch neuen Ländern, wird sich das Beratungsangebot nicht wesentlich verbessern. In Bayern existiert ein so harter politischer Wille, mit der Abtreibungfrage Politik zu machen, daß ich nicht glaube, dort könnte sich etwas verbessern. Das wird dazu führen, daß Frauen sich in Bayern nach wie vor nicht beraten lassen und dann — nach dem jetzigen Kompromiß — bestraft werden können. Vermutlich wird also auch der neue Kompromiß zum Abtreibungstourismus führen.

Halten Sie den jetzigen Kompromiß für eine Fristenregelung dennoch für akzeptabel?

Ich plädiere für eine Fristenregelung ohne Beratungszwang mit guten Beratungsangeboten. Mit Blick auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Frau halte ich dies für verfassungsgemäß. Das Thema Schwangerschaftsabbruch ist allerdings mittlerweile so abgenutzt, auch moralisch, daß wir alle froh sind, wenn es im Bundestag wenigstens zu einem Kompromiß kommt. Der jetzige Kompromiß hat, falls die CDU eingebunden werden kann, den Vorteil, daß es einen breiten Konsens gibt. Dies würde die Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, nicht mehr politisch zu intervenieren, stärken. Interview: Karin Flothmann