Mit der Kraft des Lapidaren

■ 64 Seiten Duchamp bei Nautilus

Er war ein Meister im Umgang mit Ikonen, und er ist selbst zu einer Ikone des 20.Jahrhunderts geworden: Marcel Duchamp. An ihm, der die Kunst mit einem Witz in Frage stellte und sich dem Ernst der Folgen mit List entzog, haben sich etliche Generationen von Künstlern bedient und aufgerichtet. Manchmal meint man, er wäre unter der Last der Interpretation verschwunden, und die Bleigewichte einer ins Unanschauliche gewendeten Theorie hätten die Leichtigkeit seines Wurfs versenkt.

Mit einem Bändchen, das einen Querschnitt seiner (in Band1, Theo Ruff Edition, Zürich) gesammelten Schriften vorstellt, ruft die Edition Nautilus den Duchamp wieder in Erinnerung; der, wenn es nach seinen Texten geht, nicht halb so verstiegen war, wie ihm unterstellt wird, und durchaus eloquent. In dem Kapitel „Société Anonyme“ leben einige seiner Zeitgenoss(inn)en — von Sophie Taeuber-Arp über Giorgio de Chirico bis zu Alexander Calder — in Miniaturen auf. Dabei ist Duchamp keine Übertreibung zu schade, zum Beispiel, wenn es über Kandinsky heißt, er habe abstrakt gemalt, als „das Wort ,abstrakt‘ noch nicht erfunden war“. Es folgen eine Reihe programmatischer Reden von jeweils wenigen Seiten, etwa zu der Frage, ob Künstler zur Universität gehen sollten. Was Duchamp überraschenderweise mit psychologischen Argumenten bejaht: „Mit einer Universitätsausbildung als Ballast ausgerüstet, braucht der Künstler nicht mehr zu befürchten, in seinen Beziehungen zu den Zeitgenossen von Komplexen heimgesucht zu werden.“ Es folgen, als dritter Teil des Buchs, präzise Abrisse zu eigenen Werken, erhaltenen, verlorenen und rekonstruierten.

Diesen lebhaften und wendigen Duchamp kann man durchaus lesen als Angriff auf jene aufgebauschte Kunstgeschichtsschreibung und Kunstkritik, die seine Ready-mades benutzt hat, um eine Lawine von Objektproduktion zu rechtfertigen. Duchamp war zufrieden mit der Geste, und in bezug auf einen „gewöhnlichen Hundekamm aus Metall“, in den er einen „sinnlosen Satz“ graviert hatte, wußte er zu berichten, er sei „in all diesen 48 Jahren nicht einmal gestohlen“ worden. Duchamp hatte immer, oder fast immer, die Kraft des Lapidaren auf seiner Seite.

Seine Kunst jedenfalls bleibt ein Feld für akademische Gymnastik. So heißt es im Nachwort von Klaus Voß: „Die Kunst lebt von Bedeutungsaufladungen ihrer Erzeugnisse“, ein Satz, der nach Duchamp natürlich stimmt, aber der der Wendigkeit der Figur Duchamp dennoch nicht gerecht wird. Ekelerregend ist dagegen Voß' Ausführung: „Duchamp hat mit seinem Pissoir ,Fountain‘ die Kunst vergewaltigt (der Koitus fand mit einem halben Jahrhundert Verzögerung statt), und sie weiß bis heute nicht, ob sie darüber glücklich oder unglücklich sein soll.“ Nur weil „l'art“ auf deutsch weiblich ist, müssen die Zerrbilder einer verpaßten Analyse doch nicht auf Duchamp abgebildet werden, der mit so unvergeßlich falscher Eleganz „Rrose Selavy“ war.

Der Text „Mann vor dem Spiegel“ (siehe Kasten) ist durch einen makabren Umstand in Duchamps Werk geraten: „Erstdruck auf deutsch in: Man Ray, Photographies 1920-1934; die ursprüngliche Orthographie wurde beibehalten. Laut Michel Sanouillet stammt dieser Text von ,einer deutschen Freundin von Man Ray, L.D.‘ — Duchamp (Rrose Selavy) signierte den Text quasi als ,Ready-made‘“ (Verlagsnotiz im Buch). uez

Marcel Duchamp: Der kreative Akt (Duchampagne brut). Edition Nautilus, 12DM.