: Die Enkel kamen zum Klassiker
■ Was sind Stanzen? — Ernst Jandl las in der Staatsbibliothek seine Gedichte mit Wiedererkennungswert
Eine Literaturlesung ist ein risikoreiches Unternehmen; da hängt so mancher Kopf und mancher Job von ab. Der des Veranstalters, des Agenten, der Journalisten drumherum; jeder will sein Geld verdienen, und auch der Autor hat einen guten Ruf zu verlieren. Herr Schlasa, zum Beispiel, ist nicht der Autor, sondern der Agent. Die Arbeit des Agenten ist zu wissen, was der Autor denkt und will, mindestens so gut wie der selbst. Wenn er's nicht weiß, verliert er seinen Job. (Fragt der Journalist:) Herr Schlasa, was ist denn das, eine Stanze? Ja, eine Stanze... das ist der Titel von Jandls neuestem Gedichtband: Stanzen. (Der Journalist will sein Geld verdienen und insistiert:) Aber was sind denn Stanzen, formal gesehen? Nun ja, Stanzen... Stanzen sind Gedichte. Herr Jandl schreibt Gedichte, experimentelle Dichtung, konkrete Poesie, oder wie Sie das immer auch nennen möchten... (Ärgerlich:) aber stellen Sie Herrn Jandl bloß keine literaturwissenschaftliche Fragen, das mag der gar nicht.
Fragen wir also lieber nach dem Veranstalter. Der Veranstalter ist Bouvier — Das gute Buch, Die ganze Welt der Bücher — Bouvier. Wer sich dann und wann in Berlin-Mitte aufhält, weiß, daß Bouvier vor der Wende nichts weiter als eine biedere Universitäts- und Verlagsbuchhandlung, seit einem Jahr Berlins erste und einzige Buchhandelskette ist, lauter gediegene Läden, fein säuberlich aufgereiht rundherum um den Alex, und weit raus bis nach Marzahn, wo dem Expansionsdrang noch lange nicht die Grenze gesetzt ist. Im Bouvier-Fenster am S-Bahnhof Friedrichstraße, in der ehemaligen Heine-Buchhandlung, kündet die aktuelle Auslage vom Leben und Sterben deutscher Pommerländer, als Alternative locken die Rinser wieder mal in neuem Gewand und neben der Tür »Die Rache der Krokodile«.
Bouvier also hat abgesahnt in Berlins Osten, zwölf Volks-Buchhandlungen vermachte ihm die einstige »Berliner Buchhandelsgesellschaft« auf einen Schlag, und auch ihr alter VEB-Chef Nußmann fand bei den neuen Herren noch eine gute Anstellung. Das Absahnen ist beileibe nicht das einzige Interesse von Thomas Grundmann, Sphinx auf dem Chefsessel des Bonner Konzerns, der, wenn er auch den Warencharakter des Buches nicht leugnen will, sich doch recht eigentlich als »Kulturvermittler und Kulturförderer« versteht. Manch eine FAZ-Größe, von Golo Mann bis Wolf Jobst Siedler, hat in den letzten Jahren so schon seinen Preis für Essayistik eingeheimst, und um die 100 lesende Autoren betreten und verlassen jährlich Bouviers »Literaturbühnen« in Köln, Bonn, Berlin.
Womit wir endlich zum weitaus kürzesten Teil des Unternehmens Lesung kommen. Eintretend Jandl aus dem Halbdunkel. Es begrüßt ihn ein leises Johlen von den hinteren Rängen des scheußlichen und gut gefüllten Otto-Braun-Saals der Staatsbibliothek; der kleine, kugelrunde Mann mit Glatze lächelt, dankt, setzt sich, beginnt die Lesung programmatisch mit »Zeichen«: »zerbrochen sind die harmonischen krüge, / die teller mit dem griechengesicht, / die vergoldeten köpfe der klassiker — / aber der ton und das wasser drehen sich weiter / in den hütten der töpfer«. Das Publikum schweigt, harrt darauf, was geformt werden wird zwischen Gaumen, Zähnen und Zunge und in dem geschundenen Kehlkopf Enrst Jandls (der ihn im vergangenen November zwang, die Lesung zu verschieben). Es folgen viele Gedichte über den Tod, das Sterben, das Altern und Altsein, gespannt zwischen Melancholie und der lachenauslösenden Pointe, »wir sind die menschen auf den wiesen / bald sind wir menschen unter den wiesen / und werden wiesen, und werden wald / das wird ein heiterer landaufenthalt.« Das Zuhören bei Jandl fällt leicht, wer wüßte das nicht. Seine Sprachforschung, das unterscheidet ihn von den Cousins, Kusinen, Neffen und Nichten unter den Wiener »Experimentellen«, ist allemal eklektizistisch, vorwärts getrieben vom Empirischen, vom Hören, aber auch Sehen. Keine Ausschreitung manieristischer Traditionen — wie sie kürzlich Oskar Pastior in Berlin vorführte; nie sauberer Anagrammismus, sondern immer ein Hang zur Anschaulichkeit, der die Leute der Mundart verpflichtet: »i friis mai suppn / du schaust dawäu dei bost aun / so brauch ma nix reedn / dafia schlogt uns de kost aun.«
Während die fünf Finger an den Zeilen entlangfahren, der Fuß nicht den Takt, sondern die Intonation setzt, spricht Jandl seine Gedichte zum Publikum, mal laut mal »luise«, oft mit der Stimme, dem Körper der andern, des Volkes aus dem vierten Wiener Gemeindebezirk; Frau, Mann oder Sohn, immer haben sie ein Geschlecht, wenn's auch noch so stört: »Auch Badehosen trug ich nur mit Scham / weil drin mein Genital nur wenig Raum einnahm.« Natürlich lacht das Publikum darüber, manches Mal schon beim Titel; Man weiß, was kommt. Oft bleibt es bei diesem dankbaren Lachen des Wiedererkennens, hin und wieder schiebt sich eine zweite Welle des Lachens hinterher, wenn in der dialektischen Wendung zum Schluß noch eine weitere Überraschung lauert.
Die Zuhörer sind fast durch die Bank Enkel-Generation, 25- bis 35jährige, aufgewachsen mit der »Banane krumm« und Hosi + Anna«; im Schulbuch interpretierte man die »lichtung«. Die Gedichte erinnern sie an Zeiten, in denen das Auswendiglernen ein Spaß war und Sprache im Reim zur Offenbarung wurde. Wenn — endlich, in der zweiten Zugabe — Ottos Mops kotzt (»ogottogott«), dann ist das obszön-aber-schön, weil die Sprache sich wiederfindet auf der Schwelle zum Laut. Und weil der Erwachsene erinnert wird an die Erotik beim Öffnen und Schließen des Mundes (noch) und eine Lust am Sprachgesetz (schon).
Friederike Mayröcker behauptet von ihrem Wohnungsnachbarn Jandl, sein »Mops« sei aus der Liebe zu den Vokalen, nicht zu den Hunden entstanden. Die Liebe der Zuhörer heute, gilt immer zugleich dem Vokal, dem Hund und dem Gedicht aus Kinderzeiten. Das macht den dicken Mann, der sich ein ums andere Mal vor den Blitzlichtern verbeugt, bedankt, verbeugt und dann langsam im Halbdunkel der Wand zum Ausgang wackelt, zum Klassiker. Fritz v. Klinggräff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen