»Hier fliegt uns alles auseinander«

■ Die Mietforderungen an soziale Projekte in Kreuzberg werden immer skrupelloser/ Immigrantinnenprojekt »Akarsu« soll jährlich 108.000 Mark mehr Miete bezahlen

Kreuzberg.Die Luft in Kreuzberg wird für die (noch) 283 sozialen Projekte im Bezirk immer dünner. Am eigenen Leib bekommt das jetzt »Akarsu« zu spüren — ein Immigrantinnenverein für überwiegend türkische Kreuzbergerinnen. Auf 600 Quadratmetern in der Oranienstraße bietet Akarsu eine Gesundheitsetage ebenso wie Berufsvorbereitung und Ausbildungsbegleitung für Gesundheitsberufe an. Zum 1. August läuft der Gewerbemietvertrag aus. Zunächst sollte Akarsu ausziehen; nach langem Hin und Her wird nun doch wieder verhandelt — um eine 400prozentige Mieterhöhung. Wenn der Verein künftig 24 statt sechs Mark für jeden Quadratmeter zahlen soll, müssen sie jährlich 108.000 Mark mehr Miete aufbringen. Wer ihnen die zur Verfügung stellen kann und will, ist noch unklar.

Pünktlich zum fünfjährigen Geburtstag machten die 24 Mitarbeiterinnen gestern auf ihre desolate Lage aufmerksam. Vor Bezirks-, Senats- und Arbeitsamtvertretern stellten sie klar, daß »Akarsu in seiner Bedetung für die immigrierten Frauen einzigartig ist«, so Sigrid Wagner vom Vorstand. In Stellungnahmen lobten auch die Ausländerbeauftragte Barbara John (»Die Angebote von Akarsu fördern das Selbstwertgefühl türkischer Berlinerinnen«) sowie Helga Korthaase, Staatssekretärin für Frauen, die Arbeit des Vereins. Eine Lösung der Finanzsorgen legten sie allerdings nicht auf den Tisch. Der Senat fühle sich verantwortlich, sei aber nicht in der Lage, jede »unabsehbare Steigerung der Mieten« zu kompensieren, ließ Korthaase mitteilen. Dennoch hoffen die Akarsu- Frauen, daß die Frauenverwaltung als Retterin einspringt.

Mit »Goodwill« und Gesprächen sei bei der derzeitigen Mietenexplosion gewöhnlich nicht viel zu holen, stellte Helmut Borchardt (SPD), Jugendstadtrat, klar. Er forderte den Senat auf, die Projekte im Bezirk zu sichern und regte an, die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften künftig zu verpflichten, 20 Prozent ihrer Gewerbeflächen sozialen Projekten zur Verfügung zu stellen. Anderenfalls, so Borchardt, »fliegt uns hier die soziale Infrastruktur auseinander.« Das Leben in den Innenstadtbezirken sei dann bald »nicht mehr lebenswert«.

Der Verein »Akarsu« steht exemplarisch für eine ganze Reihe von Vereinen. Kinderläden, Drogenberatungen, Freizeitheime, Ausbildungswerkstätten sind betroffen. Jedes dritte soziale Projekt in Kreuzberg, das nach dem Mauerfall einen neuen Gewerbemietvertrag aushandeln mußte, wurde gekündigt oder mit nicht bezahlbaren Mieterhöhungen von bis zu 550 Prozent konfrontiert. Ein weiteres Drittel hat eine durchschnittliche Mieterhöhung von 74 Prozent aufzubringen. Diese Zahlen veröffentlichte im März der Stadtteilverein SO 36 (die taz berichtete). jgo