HAUPTSTADT HAMELN

Hameln ist die Hauptstadt des deutschen Märchenlandes, der Rattenfänger darin der Bürgermeister. Zwanzig Kilometer vor der Stadt brutzelt die Atommühle von Grohnde vor sich hin, aber das hat man hier bald vergessen vor lauter auf alt getrimmter alter Häuser. Das deutsche Märchen ist hier Haupteinnahmequelle.

Von Rattenpest und den unglaublichen hygienischen Zuständen vergangener Jahrhunderte ist nichts mehr zu finden, im Gegenteil: die Stadt ist peinlichst aufgeräumt, eine derartige Puppenstube touristischer Romantik, daß man sich im Heimatmuseum fragt, ob man sich nun drinnen oder draußen befindet.

Weil wir in Hameln sind, hat eben dieses Museum natürlich auch eine Rattenfängerabteilung. Wer ein Herz für Tiere hat, dem würden hier beim Anblick der Martergeräte, mit denen den armen Ratten nachgestellt wurde, die Tränen in die Augen steigen. Eingefangen, aufgespießt, ersäuft, verbrannt, zersägt, vergiftet.

Und dieser Rattenfänger bzw. die im Jahre des Herrn 1284 verschwundenen 130 Kinder? War das nun eine Metapher für die Pest? Kindesraub? Die Inschrift am „Rattenfängerhaus“, der älteste noch vorhandene Hinweis, stammt erst aus dem Jahre 1602, bezieht sich also auf ein damals schon 320 Jahre zurückliegendes Ereignis.

Das Heimatmuseum hilft mit weiterer Information: Es gibt ein kleines Büchlein aus dem Jahre 1951 von einem verdienten Heimatforscher namens Heinrich Spanuth, das in unveränderter Auflage (!) auch heute noch erscheint und natürlich Der Rattenfänger von Hameln heißt. Das sagt uns: Weder Pest noch Kindesraub, sondern ein Exodus von 130 Hamelner Stadtkindern zwecks Ostkolonisation mit einbegriffenem Schiffsunglück wäre eine Erklärung, wobei der Rattenfänger als Führer gen Osten in einem entsprechenden Zwielicht erscheint. Das ist zwar nicht romantisch, aber wer die Entzauberung des Märchens fürchtet, kann sich sagen: Nichts Genaues weiß man auch heutzutage noch nicht. Cletus Ossing

Heinrich Spanuth, Der Rattenfänger von Hameln. Verlag CW Niemeyer, Hameln. Erhältlich im Heimatmuseum Hameln.