ZONSCHILD UND UNDERGROUND

Auf Atlantikflug mit LH-Flugkapitän

und Autor Jürgen Ploog

VONUWEWANDREY

Mit Mühe kamen wir über die Palmen der Juju Beach. Ich warf einen letzten Blick auf die Bucht von Bombay, bevor sie der Regen wegwischte. Der mühsame Steigflug durch Schauer begann, verschwitzte Armaturengläser, Blitze und Fehlzündungen, bis die ersten Spitzen der Wolken zu erkennen waren.

Das waren die letzten Sätze, die ich vor dem Abflug von Frankfurt/Main nach San Francisco las. Nicht eben ermunternd für einen flugscheuen Erdbewohner wie mich. Sie stammen von dem Piloten, hinter dem ich gerade hocke, im Notsitz seines Cockpits.

Erster Trost: Der fiktive Held der Geschichte fliegt für eine bankrotte Gesellschaft, die einem kriminellen Business nachjagt. Trost Nummer zwo: Uns ist bis jetzt noch kein Flügel weggeknickt.

Der Poet ist dabei, den 300-Tonnen-Lufthansa-Elefanten — mit 150 Passagieren, 120 Tonnen Kerosin und sechs Paletten Norwegen-Lachs im Bauch — über den Atlantik zu schippern. Und ich schiele ihm über die vierstrahligen, güldenen Schulterklappen ins Handwerk. Inzwischen haben wir 31.000 Fuß erreicht. Siebzigster Breitengrad Nord, vierzigster Längengrad West. Irgendwo über Grönland. Außentemperatur 67 minus. Über uns eine Halbkugel voll Weltraumlila. Unter uns viel tiefgefrorenes zerklüftetes Weiß, scharfkantige Bergkämme, runzelige Gletscherströme. Hinten vier heiße Turbinen, die uns mit hundert Tonnen Schubkraft durchs Niemandsland der oberen Atmosphäre treiben. Vor mir ein baumwollweißer, mittelbreiter Männerrücken. Darüber, zwischen den Kopfhörern, ein schmaler, dicht behaarter Kopf, der in den Himmel des Cockpits ragt.

Ein Januskopf, bürgerlicher Name: Jürgen Ploog. Der Mann, der so hoch hinaufjettet, wird dem literarischen Underground zugerechnet. Seine Prosa und sein Leben zehren von Extremen.

Das eintönige, kalte Weiß dort unten verwischt jegliche Bezüge zum Rest der Welt. Schweben im Niemandsland der Geschwindigkeit. Eine Handbreit neben unseren Köpfen fegt der Fahrtwind mit 900 Stundenkilometern über die Fensterscheiben. Das helle monotone Zischen dringt wie feiner Wüstensand in die Ohren.

„Was mich immer interessiert hat, war Reisen. Ich las eine Anzeige der Lufthansa. Ich hab' mich beworben und wurde genommen. Plötzlich war ich Pilot. Das kam überraschend.“ Nach zweieinhalb Jahren Fliegerschule startete der Sechsundzwanzigjährige zum ersten Linienflug, als Kopilot auf einer „Convair 440“. Der Glanz ist nun schon etwas ab vom Kapitäns-Gold — nach rund 16.000 Flugstunden, treu unter dem blauen Kranich im Eigelb.

Ploogs Finger drehen einen Peilsender herein. Unter der Manschette des gestärkten Uniformhemds kommt ein pinkfarbenes, leicht angefetztes Baumwollbändchen zum Vorschein. Talisman für einen abergläubischen Flieger?

Flugkapitän, Kopilot und Flugingenieur fragen sich gerade die Daten für einen Routine-Check ab. Alle Instrumente zeigen normale Werte. Der Autopilot ist eingerastet. Kurs und Flughöhe liegen nun in elektronischen Händen. Gelegenheit zum Plaudern in diesem fliegenden postmodernen Kaffeestübchen über dem Packeis zwischen Grönland und Neufundland.

Seine ersten Geschichten stammen noch aus der Zeit der Propellermühlen: Damals flog ich Maschinen, die man heute nicht mal mehr so nennen würde ... hemdsärmelig, in Unterhosen oder einfach so ... die Plätze waren irgendwo in der Landschaft wie Centerville, das hinter einem Deich mit einem Zaun lag. — ...über den mußte man hüpfen, um sich dann auf die kurze Bahn zu setzen ... von Wartung hatte dort niemand was gehört.

Wer jedoch tollkühnes gestricktes Pilotengarn vermutet, hat sich hier vertippt. Was der Autor vorführt, sind eher Karikaturen und ironische Kapriolen. Der konkrete, vollautomatische Pilotenalltag gibt auch nichts Nostalgisches mehr her.

Die Fliegerei des Sehens, die Welt in Abschnitten

Doch: „Der Stuyvesant-Welt wollte ich auch keinen Raum geben. Mich interessiert die Fliegerei des Sehens. Die Welt in Abschnitte zerhackt, durch Zeitunterschiede, durch Nachtflüge. Und diese Sicht in den Wahrnehmungsbereich hineinzutragen ist mein Grundthema.“

Die moderne Bordelektronik und eine in jeden Weltwinkel reichende Flugsicherung nehmen dem Piloten viele Handgriffe ab. Ploog hält von dieser technisch kontrollierten Freiheit mehr als von jener der Luft- Cowboys — und sie führte auch zwangsläufig zu einer anderen Erzählform:

„Früher saß ich an der Schreibmaschine und hab 'ne Geschichte begonnen, dann mußte ich zum Flug, bin darauf vierzehn Tage in Fernost rumgeflogen, kam zurück, setzte mich wieder an die Schreibmaschine, fand diesen Geschichtsteil vor mir und sagte mir, hier kann ich nun nicht weitermachen, denn ich bin in einer ganz anderen Welt. Geistig. Was ich vor dem Flug angefangen hatte, mußte ich also rausnehmen und eine neue Geschichte beginnen, die hat vielleicht etwas mit Fernost zu tun. Dann kam der nächste Flug, der ging nach Nordamerika, und so fort. Wie mußte also der Stil aussehen, der dieser Lebens- und Sehweise gerecht wird? Für mich war es das Cut-up.“

Dafür gab es Vorbilder: Schon bevor Ploog nach dem Steuerknüppel griff, hatte er die ersten Hüpfer auf der Papierpiste bereits absolviert. Mit Prosastücken in der Manier der amerikanischen Beat- und Postbeat- Autoren. Einer von ihnen, William S.Burroughs, hat dieses Cut-up, die Schnittkunst des Films, für die Literatur entwickelt. Sie bot sich gerade für den Aeronauten Ploog an, um die täglichen Wahrnehmungen literarisch zu bewältigen. „Der Schnitt, das ist einmal die Schrumpfung der Zeit. Und dann wieder die Dehnung der Zeit. Ich muß gelegentlich Situationen auseinanderdehnen, um ihren Gehalt freizulegen.“

Schrumpfung von Zeit und Entfernung

Das Fliegen am Rande der Schallgeschwindigkeit und die Trägheit der menschlichen Sinnesorgane zwingt zu ästhetischen Konsequenzen: „Durch die Bewegung mit dieser Geschwindigkeit schrumpft die Entfernung ganz gewaltig zusammen, das heißt, es gibt keine Entfernung mehr. So was kann man analog eben nur mit den schnellen Schnitten erfassen.“ Das Verlassen des Flugzeugs in New York ist so belanglos wie das Aussteigen aus der Frankfurter U-Bahn. Zwei Zigarettenlängen entfernt liegt Boston. Das Leben, ein Drehbuch mit tausend Schnitten, der Mensch ein ewiger Passagier im Nichts. Ploog jongliert in seinen Texten mit Versatzstücken und Schneideresten, die an ihren Schnittkanten lichtschnell ineinander übergehen.

Während unsere Gespräche über ästhetische Probleme kreisen, tauchen unten, zwischen tiefen Wolkenfeldern, Sektoren der Erdoberfläche auf. Ein scharf eingeschnittenes, abgeschattetes Tal zwischen schneebedeckten Bergmassiven. Dann wird ein Flußlauf erkennbar, der eine Handbreit weiter schon als bleiweiße Schlange durch die Ebene kriecht. Die Flugkarte bestätigt, daß es sie wirklich gibt. Rechts unter uns treibt ein geflügeltes Stück Metall vorbei. Dieses Wahrnehmungs-Kaleidoskop fördert halluzinatives, boden- loses Schreiben:

Es dauerte nicht lange, und ich trieb mit den 60er Jahren aufs Meer hinaus, das Festland eingefahrener Vorstellungen hinter mir lassend... Gehirn ein, und du bist in Asien. Oder in der Vergangenheit, eine Roßkur, um die Zeitkrankheit loszuwerden, an der alles zugrunde geht. (RadarOrient, 1969)

Er formuliert patchworkartig, erzeugt künstliche Räume, und manchmal durchdringen sich die Räume. „Mittlerweile habe ich ein großes Arsenal an Sets, wie beim Film, zum Beispiel eine südamerikanische Hafenkneipe, eine New Yorker Bar oder ein Hotel am Dschungelrand. Diese Szenen habe ich in mir und kann sie nach Bedarf aus den Schubladen abrufen.“ Manchmal überreizt Ploog allerdings die Kunst seiner Raum-Zeit-Schere, und der Leser verliert die Übersicht. Doch der Autor weiß sich zu rechtfertigen: „Mit dem Schrumpfen der Entfernung geht auch Veränderung unseres Zeitgefühls einher. Stichwort Echtzeit: Alles passiert ständig und jetzt. Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft.“

Konsequent bedient sich der Autor aus dem Arsenal des Sience-fiction-Genres. Nächte in Amnesien heißt eine Sammlung von Stories von 1980, die den Leser in der Hauptstadt „Globeville“ empfangen. Dorthin haben sich ein paar Außenseiter der urbanen Zivilisation abgesetzt. Neugierige, Geächtete und Gescheiterte.— Ein Versuch, dem irdischen Knast zu entkommen? Ploog erlebt den Trug einer durch Technik errungenen Freiheit auf besonders zynische Weise. Dieser Dädalos sitzt angeschnallt in einer engen Kabine, gefangen im Netz von Leitstrahlen, Peilsendern, Wetterdienstkanälen. So mancher Pilot weiß von Beinahe- Kollisionen und Bombendrohungen zu berichten.

Der alte Menschheitstraum vom Fliegen, mit den Konstrukteuren Otto Lilienthal und den Gebrüdern Sright Wirklichkeit geworden — inzwischen ein Alptraum. In dem Buch Fahren, fahren, fahren... (Merve) des französischen Strukturalisten Paul Virilio lese ich: Weniger die Reise treibt hier zum Aufbruch als der Geschwindigkeitsrausch und sein eigentümliches Glück; es ist ein Abflug ohne Rückfahrkarte, ein reines „Abfahren“ AUF/IN DIE GESCHWINDIGKEIT, nicht mehr NACH AMERIKA oder NACH EUROPA. Wie bei den Nomaden Jack Kerouacs, für die die West- oder die Ostküste der Vereinigten Staaten kein Ziel mehr darstellen, bei den Drop-Outs, für die Geschwindigkeit zum wirklichen Lebensmilieu geworden ist.

„Mich interessiert das, was ich so noch nicht kenne“, höre ich Ploog sagen, und dieser Satz reißt mich aus unserem Gespräch. Ja, wo sind wir eigentlich gerade? Er faltet einen Flugatlas auseinander. Immer noch das eintönige Fauchen am Fenster. So dürfte es sich auch über Sibirien anhören.

„Wir sind über der nördlichen Hudsonbay“, heißt die nüchterne Auskunft. Vor 150 Jahren ist da unten John Franklin mit seinen Leuten erfroren. Ploog ruft eine Bodenstation an. Eine menschliche Stimme irgendwo im Eis krächzt uns den neuen Kurs herauf. Der Captain stellt ihn nach. Am künstlichen Horizont sehe ich, daß die Maschine sich leicht in die Kurve neigt.

Geschichtslose mechanische Marionetten

Fast kommt mir auch der Erzähler in Ploogs Geschichten wie jemand vor, der im Regieraum festsitzt, an Knöpfen dreht und seine Statisten machen läßt. Was verbleibt in den Stories noch an Handlung? Nun, es sind durchaus mit Kriminalkraft geschürzte Stories, die in irgendeinem Hotelzimmer, in Flugzeugen oder und Raumstationen, Bars, Sexschuppen ohne Vorspiel einsetzen. Die Typen, die dort agieren, meint man schon zu kennen.

Der Erzähler borgt sich (im Schatten von Burroughs und Chandler) gern vertraute Charaktere, Kostüme und Requisiten des Detektiv- und Agentenromans aus. In der Kulisse: Dealer, Junkies, Killer, Barfrauen. Die meisten Mit- und Gegenspieler sind nur Figuren. Gezeichnete, aber geschichtslos und ohne Schicksal. In die Welt gestellt und alleingelassen. Sie agieren, reagieren mechanisch wie Marionetten und verschwinden plötzlich. Für Mitleid ist kein Platz.

„Die Tür geht auf, und es passiert etwas ganz Ungewöhnliches. Ich möchte mir diese Freiheit erhalten. Da brauche ich keine angepaßten Außenseiter, sondern etwas freakige Typen.“

Antitypen zur cleanen Lufthansa- Welt. Die Burschen kommen schnell zur Sache. Aber: Diese Sache ist nur Nebensache. Die Dramaturgie reduziert sich auf Handlungsattrappen.

Es entstehen expressionistische bis surrealistische Textgemälde, deren sinnliche Präsenz und Dichte einen in ihren Sog reißen können.

Auch zu Hause nur noch zu Besuch

Muß der ständige Ortswechsel, das Leben in fremden Häusern, das Leben voller Abschiede und Ankünfte, die keine mehr sind, nicht zu einem Gefühl der Heimatlosigkeit fühlen? „Wenn man sehr viel unterwegs ist, wird die Welt natürlich irgendwo fremd. Man ist auch dann zu Hause nur zu Besuch.“

Jetzt erhalten wir einen Anruf von einer Bodenstation — er gilt unserer Orientierung im Äther. Nicht zu wissen, wo man sich gerade befindet, kann lebensgefährlich werden. Der Verlust der Orientierung ist nicht zufällig auch eines der zentralen literarischen Themen Jürgen Ploogs. „Die Konstanten des Autors sind seine Intelligenz, sein Körper, seine Wahrnehmung, die Umwelt. All das strömt auf ihn ein. Er muß eine bessere Maschine bauen als die, die man aus dem Menschen gemacht hat. Wir sind doch total eingekastelt, und wo wird der Spielraum gefunden? In der Literatur, in künstlerischen, artistischen Bemühungen.“

Bietet nicht auch die Erinnerung einen Halt? Originalton aus einem neuen Stück:

Es gab nichts, was ich nicht schon gesehen hatte, aber ich wollte sehen, daß es noch immer so war. Ich wollte räumliche Erfahrung, auch wenn der Raum eine Illusion des Körpers ist. (...) Mein Gedächtnis war scharf, aber für Erinnerung hatte ich keinen Bedarf. Ein schales Playback von etwas, das so oder auch anders hätte gewesen sein können. Ein Film, an dem ich nicht beteiligt war.

Das Filmmuseum des eigenen Lebens? Melancholie und Narkose. Spulen wir die guten alten Bilder noch einmal durch. Für einen Tequila-Trip taugen sie allemal. Landeanflug auf San Francisco. Hinter wasserschweren Wolken wischt unten die Golden Gate Bridge vorbei. Warteschleifen über Oakland und Pittsburgh. Die schnöde Wirklichkeit bekommt wieder Kontur. Ein paar Minuten später setzt Ploog seinen dicken Luftbus behutsam auf die Piste.

Die schnöde Wirklichkeit bekommt Kontur

Flanieren durch Francisco. Die enge Uniform hat der Captain gegen ein schlaksiges, curryfarbenes Leinenjackett mit riesigen Flügeltaschen eingetauscht. Wir streifen durch seine Straßen, Bars und Buchhandlungen — „...nichts, was ich nicht schon gesehen hatte, aber ich wollte sehen, daß es noch immer so war.“ Der Gang läßt eher auf einen gelangweilten Golfspieler schließen, der seine großen Siege hinter sich hat. An einer Straßenecke in Chinatown blickt er plötzlich auf und greift zum Notizblock. Der Schriftzug über einem Laden wird festgehalten. Irgendwann brauche er das. Wir stöbern in den Bücherschluchten des „City Light Book Shop“. Ploog verschwindet im Keller der antiquarischen Schätze und wird fündig. Dieser Laden war die geistige und verlegerische Keimzelle des literarischen Beat. Hier trafen sich in den Jahren um 1960 William S.Burroughs, Allen Ginsberg, Paul Bowles, Frank O'Hara, Lawrence Ferlinghetti und andere.

Nebenan im Café „Barberini“ liest Ploog mir beim Cappuccino aus einer unveröffentlichten Story vor: Ich fuhr nach Süden, ich wollte eine andere Landschaft haben. Die Welt ist eine Postkarte. Die Farben wurden intensiver, aber ich konnte keine Bilder finden, sie zerfielen vor meinen Augen. Manchmal schlug ich mir ins Gesicht, um herauszufinden, wer oder wo ich war.

Am nächsten Tag, 13 Uhr, im „Cathedral Hill Hotel“: Pick-up der Crew für den Rückflug. Der Dichter der Unterwelt ist wieder in das blaue Tuch geschlüpft, das Contenance verleiht, männliche Pflichterfüllung und väterliche Verantwortung ausstrahlt. Der Job ruft ihn zurück in die Geometrie seines Alltags. Sein Kopf nordet sich ein.

Take-off um 15 Uhr. Lunch um 16.30 Uhr. Gegen 23 Uhr klettere ich noch einmal die schmale Treppe zum Cockpit hinauf. Durch die Scheibe der abgedunkelten Kanzel fluoreszieren die fernen Kaskaden des Polarlichts, irgendwo zwischen Raum und Zeit.

Veröffentlichungen von Jürgen Ploog: Coca-Cola Hinterland (1969), Sternzeit 23 (1975), RadarOrient (1976), Pacific Boulevard (1977), Motel USA (1979), Nächte in Amnesien (1980), Straßen des Zufalls (1983), Peter Lorre in Metropolis (1988), Groschennavigation (1988), Fact of Fiction — Essays (1991).