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Den Stiefel runter

Über Gianni Amelios „Il ladro di bambini“  ■ Aus Cannes Thierry Chervel

„Sublime!“, „Grand film!“, ruft die Presse nach der Vorführung von Gianni Amelios Il ladro di Bambini (Der Kinderdieb). Es hat viel Applaus gegeben. Il ladro di bambini: Das ist der Film, den der Produzent Angelo Rizzoli im Februar aus dem Wettbewerb von Berlin zurückzog. Lieber wollte er die Auswertung des Films um drei Monate verschieben und den Film zuerst in Cannes präsentieren.

Er hat vermutlich richtig spekuliert. In Cannes haben drei Jahre hintereinander amerikanische Regisseure die Goldene Palme gewonnen — Steven Soderbergh, David Lynch und die Coen-Brüder —, nun ist eigentlich mal wieder ein Europäer dran. Il ladro di bambini ist ein echter Kandidat. Und die Goldene Palme ist mehr wert als der Goldene Bär.

Den Applaus der Presse muß man trotzdem vorsichtig einschätzen. Bisher bot der Wettbewerb von Cannes zwar eine ganze Menge sehenswerter Filme, aber kein „Meisterwerk“, keine „Sensation“ — wie vor ein paar Jahren zum Beispiel Kieslowskis Kurzen Film über das Töten. Und wenn es kein Ereignis gibt, kann man es auch herbeiklatschen und -reden. Ein „stiller“ Film, der mit wenig Geld gemacht wurde, mit Kindern und einer einfachen humanistischen Botschaft: Da lobt man gern.

Aber nichts gegen den Film. Nur daß auch er nicht „das“ Ereignis ist.

Der junge Carabiniere Antonio muß die beiden Kinder Rosetta, elf, und Luciano, neun, ins Kinderheim begleiten, zuerst von Mailand nach Civitavecchia, dann von Civitavecchia nach Sizilien, den ganzen Stiefel runter. Die Kinder wurden der Mutter weggenommen, weil sie und ihr Freund Rosetta zur Prostitution zwangen. Das katholische Heim von Civitavecchia mag die Kinder wegen moralischer Bedenken nicht aufnehmen, darum wird die lange Zug-, Bus- und Autofahrt ins sizilianische Heim notwendig.

Die Kinder sind zunächst kühl und skeptisch, sagen kaum ein Wort, wehren die leiseste Bewegung mit Schulterzucken ab, und Antonio ärgert sich über den nervenden Auftrag. Aber es kommt, was kommen muß. Im Lauf der Zeit nähern sich die drei an, Antonio findet immer mehr Anlässe, die Ankunft in Sizilien aufzuschieben. Sie machen Station bei seiner Schwester, legen eine Pause am Meer ein, baden, spielen. Antonio vergißt seine Pflicht. Es ist ein Abdriften, eine Entwirklichung. Seinen Vorgesetzten gilt er längst als Kinderdieb.

Vielleicht passiert in dem Film ein bißchen zu sehr, was passieren muß. Die Heftigkeit und das Chaos fehlen. In seiner durchaus sympathischen Angst, sich ins Bild zu drängen, hat sich Amelio zu weit herausgehalten, die Akteure nicht weit genug getrieben und im Schnitt — wo er wirklich „Autor“ sein muß — Längen stehen lassen. Trotzdem: Es gibt wahre Momente in Il ladro di bambini, Funken — die nur leider nichts in Brand setzen.

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