»Ich hatte immer geglaubt, ich sei der Letzte«

■ Wladimir Lindenberg ist in diesen Tagen 90 Jahre alt geworden/ Als Sproß eines alten russischen Adelsgeschlechts mußte er als 15jähriger Ende 1917 — nach der Oktoberrevolution — Rußland verlassen/ Seit Jahren lebt und arbeitet er in Berlin

Berlin. »Es war einmal ein Ort, der hieß Girejewo. Und es lebte dort eine Familie, eine etwas verrückte Familie, die sorglos war und sich am Leben mehr freute, als es üblich war. Und dann kam ein Sturm und wehte diese und viele andere Familien hinweg.« Die Erinnerung an das alte russische Dorf mit prächtigen Adelshäusern, riesigen Parkanlagen, einer alten Kirche und einem Schloß ist Wladimir Lindenberg jedoch geblieben, wie auch die Erinnerung an jene Menschen, die dort zu Hause waren. Der heute 90jährige ist in Girejewo aufgewachsen und lebt seit Jahrzehnten in Berlin. Er hat Bücher über diesen Ort geschrieben, der heute von der Landkarte verschwunden ist, und über seine Kindheit im zaristischen Rußland.

Ende 1917, nach der Oktoberrevolution, hat der damals 15jährige Wladimir Lindenberg mit seinem deutschen Stiefvater Rußland verlassen müssen. Seine Eltern stammten aus einer alten Adelsfamilie und wurden wie alle Blaublütigen von den Bolschewiki verfolgt. Der junge Wladimir war vor der Geheimpolizei nicht mehr sicher, weil er in Moskau zusammen mit anderen Jungen Barrikaden aus alten Möbeln oder Gartentoren errichtet und auf die anrückenden Bolschewiki geschossen hatte. Der Kampf ging verloren, und die ersten Verhaftungen begannen. Auch Wladimir kam für einige Tage ins Gefängnis, hörte die Schüsse im Hof, sah die nackten Leichen auf dem Lastwagen und konnte selbst nur durch Zufall dem Tod entkommen.

Der Abschied von Rußland ist ihm schwer gefallen. Und seine neue Heimat Deutschland war ihm lange Zeit fremd. Die Menschen dachten und sprachen anders und waren nicht gerade freundlich zu den russischen Emigranten. »Wir hatten alle Sehnsucht nach Rußland«, erzählt er. »Und wir waren dafür bekannt, aus dem Koffer zu leben. Wir hatten einen Koffer unter dem Bett — jederzeit bereit, zu packen und zurückzugehen. Aber nach über siebzig Jahren vergeht einem das.«

Das Heimweh ist zwar überwunden, aber er hat nie aufgehört, als Russe zu leben. In seinem Berliner Garten stehen 17 Birken — als Symbol für die empfindsame, weiche und kontrastreiche russische Seele. Im Haus, das aus einfachen Holzbrettern gebaut und innen mit Strohmatten verkleidet ist, hängen Ikonen aus russischen Klöstern, Kreuze und Rosenkränze mit schwarzen Perlen, den sogenannten Gebetsperlen, die während des Gottesdienstes getragen werden. Russische Klassiker stehen in den Bücherregalen, und der Gast wird mit Tee und russischen Leckereien empfangen. Manchmal kocht Wladimir Lindenberg noch selbst nach alten Familienrezepten. Zum Beispiel jenes typische Kompott aus Erdbeeren und Aprikosen, das zum Tee gereicht wird und sehr süß ist.

Mit Witz, Charme und Ironie erzählt er vom alten Rußland. Es kommen jetzt auch sehr viele Russen zu ihm, die von ihrer alten Heimat schwärmen. »Sie haben zwar gehört, daß die Menschen im Jahr 1917 hungern mußten, in den Betrieben gestreikt, Häuser und Geschäfte geplündert, auf den Straßen demonstriert und geschossen wurde, aber sie wollen das nicht mehr glauben.« Doch ihre Träume und Phantasien über die gute alte Zeit werden von Wladimir Lindenberg jäh zerstört. Er hat den Rücktritt des Zaren im März 1917 genauso miterlebt wie die rasch aufeinanderfolgenden Regierungen, bis schließlich die Bolschewiki die Macht an sich rissen und die Regierung in Petrograd — von 1914 bis 1924 der russische Name für St. Petersburg — verhafteten.

»Es war eine schlimme Zeit«, findet Wladimir Lindenberg. »Nachts hörten wir Geräusche in unserem Park in Girejewo. Leute kamen und sägten die alten Bäume ab, um Brennholz für ihre Häuser zu haben.« Tagsüber kamen Männer vom Wohlfahrtskomitee und beschlagnahmten einen Flügel, ein Grammophon, Möbel oder andere Dinge, die sie brauchten.

Deshalb beschloß die Familie im Sommer 1917, zur Großmutter nach Moskau zu ziehen. Sie lebte wie die meisten Adligen am Arbat in einer großen, prächtigen Wohnung. Einige Monate später mußten sie auch dort ausziehen, weil die Wohnung von den neuen Machthabern, den Bolschewiki, beschlagnahmt wurde. Lebensmittelkarten bekamen die Adligen, die als Blutsauger beschimpft oder gar getötet wurden, kaum. Aber immer wieder gab es Menschen, die ihnen ein Stückchen Brot oder Wurst gaben.

Ende 1917 und in den Jahren danach verließen etwa zwei Millionen Russen ihre Heimat. Viele kamen nach Berlin. Wladimir Lindenberg wohnte allerdings zuerst in Remscheid, studierte dann in Bonn, war aber oft zu Besuch in Berlin. »Ich ging umher und hörte, wo es laut war. Am lautesten war es in den russischen Restaurants. Und da gab es natürlich phantastisches Essen.« In den dreißiger Jahren kam er endgültig an die Spree und arbeitet seitdem als Nervenarzt in Berlin. Trotz seiner neunzig Jahre will er sich nicht zur Ruhe setzen, hält Vorträge in der Urania und freut sich darüber, Besuch von Erzherzögen aus Österreich zu bekommen oder von Verwandten, die in den Vereinigten Staaten oder in Rußland leben und von deren Existenz er erst vor Jahren erfahren hat, als zum ersten Mal einer seiner Artikel in einer russischen Zeitung erschienen ist. Danach meldeten sich Angehörige seiner Familie. »Und ich hatte immer geglaubt, ich sei der Letzte.« Ulrike Lückermann