»Wir werden nicht mehr geliebkost«

■ Friederike Mayröcker las in der Buchhandlung »Bouvier« aus veröffentlichten und unveröffentlichten Werken

Die Frau mit dem harten poetischen Namen liest. Es hat lange gedauert, bis sie die ersten Sätze spricht. Ein unheimlich retardierendes Moment, wie sie die Fotokopien zurechtlegt, die Bücher ordnet, die schwarzen Haare aus dem Gesicht streicht, die Brille wechselt, das Wasserglas verrückt. Friederike Mayröcker ist ganz bei sich. »Kann sein, daß...«, wirft sie in die angestrengte Stille des Publikums, ganz, als werfe sie gelegentlich flache Steine ins Meer. »Kann sein, daß, Wir werden nicht mehr geliebkost«, fährt sie fort.

Und Stein um Stein, sehr gezielt und sehr ruhig spricht sie über Alzheimer, Flecken des Alterns auf der Haut, Betroffenheit, der keine Hoffnung mehr nachfolgt; die wachsende Ungeduld, die Todesstunde, die für gewöhnlich zwischen zwei und drei Uhr morgens eintritt, die Tatsache, daß die Psyche mit in das Alter hineingerissen wird.

Was diese Frau auf dem Podest der hypertrophierten Buchhandlung »Bouvier« liest, ist todtraurig. So hat man sich den lauen Maienabend nicht vorgestellt. Und ganz, als wisse die Österreicherin auch darüber, selbstredend, Bescheid, wechselt sie das Tempo, klart die Stimme auf und becirct das Publikum mit ihrem Absurden Liebesgedicht aus den 50er Jahren. »Zuckerechse, Seidenspinner, Aurelia, Morgenhand, Winterwende, Mitternacht, da capo« heißt es im verliebten Sauseschritt. Keusch immer auch, weil sie ja für ihre sublime Katholizität bekannt ist, die Friederike Mayröcker. Eine Frau, die sich liebevoll selbst bezichtigt, als Kapuzineräffchen — ein Name, den sie heute nur noch im Rückblick gebraucht. Aber zu ihrer schwarzen Kleidung fällt der Frau mit dem silbernen Kreuz um den Hals immer noch zuallererst ein, daß es die Farbe der Anarchie ist, die sie trägt.

In den 70er Jahren hat die Lyrikerin versucht, die Sprache und ihre Syntax aufzusprengen, Kaskaden aus Zitaten, aufgesprengte Erinnerung, Verse und Versmaß in schwindelerregender Wucht gegen sich selbst aufzubringen. An diesem Freitag abend, an dem sie eine Auswahl aus ihrem lyrischen und prosaischen Gesamtwerk vorstellt, hat Mayröcker eher den Kontext und die einfachen Bilder im Sinn. Inmitten der ungezählten Blumennamen, dem klassichen Aurelien-Glyzinien-Hyazinthen-Repertoire bricht das Befremdliche immer, plötzlich, wie der Niesreiz, herein. Die Entladung, auf die Ernüchterung folgt: »Er hielt ein Veilchenbouquet wie einen Belichtungsmesser.« So geht es oft in Mayröckers Zeilen. Die Beschaulichkeit — längst Verrohtes — richtet sich behaglich ein, um mit einem Wort zu verderben.

In Stilleben, ihrem letzten Prosaband, aus dem sie zum Abschluß liest, geht es Mayröcker, der Zeilenzüchterin, um das schlichte Verharren von Gegenständen in künstlerischer Anordnung. Etwa so: »Ich hatte den ganzen heutigen Tag damit zugebracht, sage ich, zu überlegen, ob man den beiden Delinquenten Papierherzen an die Brust geheftet hatte, um die Stelle des Herzens gut zu markieren.«

Dann wird ihre Stimme wärmer, ihre Traurigkeit teilt mit dem Lächeln ein Stück Weg, und sie, die Bescheidene, die Rücksichtsvolle, kommt auf sich zu sprechen. »Meine Simultanhaltungen stinken zum Hinmel«, sagt sie, und im Publikum lacht der eine oder die andere.

1924 wurde Friederike Mayröcker in Wien geboren. Ein Jahr später erkrankte sie an Hirnhautentzündung und verbrachte die ersten Lebensjahre hermetisch abgeriegelt von der Außenwelt. Von 1946 bis 1969 arbeitete sie als Lehrerin, fortan als freie Schriftstellerin. Mayröckers Werk ist vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Georg-Trakl-Preis (1977). Bei Suhrkamp veröffentlichte sie neben Lyrik — Gute Nacht, guten Morgen (82) Winterglück (86) — auch diverse Prosa wie Die Abschiede (80), Magische Blätter I und II, III (83, 87, 91), mein Herz mein Zimmer mein Name (88), zuletzt Stilleben. Seit den 50er Jahren ist Friederike Mayröcker mit Ernst Jandl, ihrem »Vorsager« und »Ohrenbeichtvater«, wie sie sagt, befreundet.

Auch an diesem Abend im »Bouvier« sitzt Jandl im wohlgepolsterten Stuhl im Publikum, kugelig-rund vor der hageren, schwarzgekleideten Frau, an der alles feingliedrig, einpaarig, unbefriedet zu sein scheint. »Ich habe noch viel zu tun« — sagt die Erzählerin im Stilleben — »Ich habe noch drei Bücher zu schreiben.

Diese Intimität, sage ich, der Verlust dieser Intimität mit sich selbst, und diese Identifikation, der Verlust dieser Identifikation mit sich selbst — dies alles aufgeben zu müssen ist mir die sinnloseste, grausamste Vorstellung überhaupt.« Mirjam Schaub