Der Super-GAU ist eingetreten

Vier Minuten vor Schluß hält Buchwald in Leverkusen die Birne hin, trifft zum 2:1 und beschert den einzigen, denen es keiner gegönnt hat, den Titel: Die Schwaben sind Deutscher Meister  ■ Aus Leverkusen Chr. Biermann

Achtlos tritt der Meistertrainer im Treppenhaus der Haupttribühne des Ulrich-Haberland-Stadions dem harmlosen Reporter in die Hacken. Heftig schubst der Meistertorhüter den selben Reporter aus dem Weg, der, vom Klacken der Stollen gewarnt, wenigstens seine Füße in Sicherheit gebracht hatte.

Warum das alles? Um mitten auf der Haupttribüne einem ältlichen DFB-Funktionär, der gerne etwas durch ein Mikrofon gesagt hätte — das ihm im entscheidenenden Moment aber weggenommen wird —, die Meisterschale zu entreißen und sie hochzuheben. Aber Achtung, da kommt auch noch der Meistertorschützenkönig. Wo war er nur so lange? Er guckt schon ganz verzweifelt. „Ich will auch“, signalisiert jede Faser seines Körpers. Und dann — schwupps — hockt er auf den Schultern des Meisteraußenverteidigers und darf auch mal hochhalten.

Aber das reicht ihm gar nicht. Er schnappt sich die Schale und rennt damit zurück ins Treppenhaus — Achtung, auf die Hacken aufpassen— und liegt sich auf dem Treppenabsatz erst mal mit dem Meisterschönling in den Armen. Doch, hast du nicht gesehen, steht er schon im nächsten Moment im Kabinengang, hat kein T-Shirt mehr an und küßt die Schale. Der Meistertorschützenkönig hat übrigens sehr bepelzte Schultern, sieht man da. Die Fotografen rufen „Fritz“ und „höher“ und knuffen sich und drängeln sich. Einer meint, daß das die „fotografisch beschissenste Meisterfeier“ sei, die er je erlebt habe. Aber Fritz küßt das Ding schon wieder. Hoffentlich hat er keine Silberallergie.

Dann sagt ein Meisterbetreuer, daß der Fritz jetzt mal die Schale rausrücken soll, und gibt ihm den Meisterwimpel, weil „der ist genauso schön“. Und dann hört auch das Geküsse auf. Ach, da drüben steht der Meistertrainer, der alte Hackentreter, und dankt allen, auch den Sponsoren. Nur seiner Mutter nicht. Bevor er richtig feiert, will er noch „die Medien befriedigen“, sagt er. Schon ist der Meisterbetreuer wieder auf dem Plan und sagt nur verächtlich „Pater Leppich!“ Auch der Meistermanager ist ganz doll umringt und sieht unheimlich nett aus. Der tritt keinem in die Haxen. Bestimmt nicht. Er, der „immer nur eins wollte, das Optimale“, begreift auch schon, „was die Spieler noch gar nicht verstehen können“. Wahrscheinlich, daß sie jetzt alle Meister sind. Wir wissen jetzt, was wir schon vorher wußten, daß Sieger nämlich immer doof sind. Dieses ganze wildfremde-Menschen-liegen-sich-in- den-Armen-Ding und Ich-kann-es- noch-gar-nicht-fassen-Gestammel. Aber hier ist es ganz besonders schlimm. Weil das hier auf einem Irrtum basiert. Historisch gesehen (wir kommen noch darauf zurück!) jedenfalls. Der fußballtechnisch gesehen Größte Anzunehmende Unfall, der auf den Seiten dieser Zeitung schon am Sonnabend vollinhaltlich richtig so genannt wurde, ist eingetreten. Wir sind her in die Mühlsteine schwäbischen VfB-Stuttgart-Meisterjubels geraten.

Denn, aufpassen, jetzt kommt der Spielbericht: Der VfB Stuttgart erspielte sich in der ersten Halbzeit keine (ungeschummelt!) Torchance, lag zu Recht 0:1 zurück (Elfmeter Kree) und bekam dann einen Elfmeter geschenkt. Kögl war zwar gefoult worden, dies aber vor dem Strafraum. Folgte in der zweite Halbzeit heftiges Hin und Her (terminus technicus: „offener Schlagabtausch“) mit deutlichen Chancen-Vorteilen für Leverkusen. Zwölf Minuten vor Schluß schickte Schiri Dellwing Matthias Sammer vom Platz. Vier Minuten vor Schluß köpfte Guido Buchwald das entscheidende Tor zum 2:1. Frankfurt verlor im fernen Rostock. Der Rest war Jubel.

Erübrigt sich zu sagen, daß dies ein historischer Rückfall in längst vergessen geglaubte Zeiten Derwallschen Durchwurstelfußballs der 80er Jahre ist. Außerdem ist es natürlich ein Titel für die CDU, stilistisch und wegen Mayer-Vorfelder sowieso und Mercedes. Was aber die Verlierer in Dortmund (Lafontaine- SPD) und Frankfurt (Unorganisierte) nur schöner und größer macht. Aber da hinten steht noch Matthias Sammer und ist ganz Boris Becker. Ein Moment echter Größe in all dem. Der beste Spieler seiner Mannschaft. Er ist sentimental und verwirrt, dann ironisch. Sagt traurig: „Irgendwie fühl' ich mich gar nicht als Meister, weil ich nicht bis zum Schluß mithelfen konnte.“ Sagt pathetisch: „Ich glaub' nicht an Gott, aber als das Tor fiel...“ Sagt leicht verächtlich: „Jetzt kommen natürlich alle die raus, die sagen: Wir haben es immer gewußt.“ Sagt kokett: „Ohne meine Rote Karte wären wir wohl nicht Meister geworden.“ Sagt historisch wertend: „Das war doch die größte Saison in der Geschichte des deutschen Fußballs. Und ich kann sagen: Ich bin damals Meister geworden.“ — Wenigstens er.

Leverkusen: Vollborn - Radschuweit - Wörns, Kree - Fischer (76. Nehl), Jorginho, Lupescu, Buncol, von Ahlen - Thom, Lesniak (76. Herrlich).

VfB Stuttgart: Immel - Dubajic - Schäfer, Schneider - Buck, Buchwald, Sammer, Kögl, Frontzeck - Walter (85. Kastel), Gaudino (85. Sverrisson).

Zuschauer: 25.500.

Tore: 1:0 Kree (20./Handelfmeter), 1:1 Walter (43./Foulelfmeter), 1:2 Buchwald (86.).