ZWISCHEN DEN RILLEN VONHELMUTMAURO

Wer sich unter heutigen Contratenören, Altisten und Sopranisten vehinderte Kastraten vorstellt, die Stimme ihrer Großmutter nachahmend, dem sei zur einstündigen Verdrängung seiner Vorurteile eine neue CD von „Virgin Classics“ empfohlen. Gérard Lesne singt portugiesische vilancetes und cantigas (VC262398) und beweist dabei ein stimmtechnisches und musikalisches Selbstverständnis, das auch mißtrauische Ohren angenehm überraschen wird. Mit vibrierender Leidenschaft beschreibt er die Augen der Senora Morena, berichtet leidvoll über Kriege und Mißerfolge.

„Deixay que glórias passadas/ Mouro de males presentes“ — weg mit längst vergangenem Ruhm, ich sterbe an den Übeln der Gegenwart. Die Texte und Melodien stammen aus Quellen des 16.Jahrhunderts, ihr Ursprung liegt zum Teil aber weiter zurück. Besonders in den klagenden Liedern gewinnt Lesne intensive Spannung, die einer depressiven Grundstimmung die Kraft musikalischer Sinnlichkeit erhält. Lesne verfügt über eine ungewöhnlich farbenreiche Stimme, die auch in höchster Lage unangestrengt sicher und kräftig bleibt. Nur das piano ist bisweilen spröde verhaucht. Am überzeugendsten ist Lesne im ersten Lied „Dos estrellas“ (Nr.2), da zeigt sich seine Stärke mit lebender Darstellung und schillernder Registerwechsel. Das einleitende Instrumentalvorspiel (Nr.1) hat noch südländisch herbe Frische und Schwung, die später ganz und gar verloren gehen. Zwischen die Gesänge sind Stücke für allerlei Zupfinstrumente eingestreut, die in ihrer vergeistigten Langeweile frustieren. Welche Erlösung, wenn wieder Gesang einsetzt. Einmal wird diese Methode der Hörerlenkung aber wirklich überzogen: Über elf Minuten zieht sich das Harfengezupfe hin. Das Ensemble „Circa 1500“ gerät in die Nähe der prüden Klangvorstellungen rein philologischer Mittelalterrezeption. Die daraus hervorgegangene rheumatisch verknöcherte Musizierpraxis befindet sich aber inzwischen im Stadium des Altersstarrsinns. Das Grundproblem, daß die Noten nicht schon die Musik darstellen, sondern nur unvollständige Anweisungen sind, gilt auch für spätere Quellen, und die Verwendung von Nachbauten alter Instrumente dient nicht ohne weiteres der Erbauung des Hörers.

Daß alte Musik auch wie Musik klingen kann, beweist das Ensemble an anderer Stelle selbst, zu Beginn und in der Begleitung der Gesangsstücke. Da werden die Musikerinnen (Nancy Hadden, Paula Chateauneuf, Erin Headley) und Musiker (Andrew Lawrence-King, Stephen Stubbs) plötzlich lebendig, lösen sich von der paralytischen Wirkung des Notentextes. Sie lassen sich anstecken von dem frei schwingenden Erzählduktus Gérard Lesnes. Wer Portugiesisch kann, wird seine Freude haben an den bunten Geschichten von Königstöchtern und Katastrophen. Alle anderen sind auf französische und englische Verständnishilfen angewiesen. Die „deutsche Textbeilage“ beschränkt sich auf eine ziemlich schlechte Übertragung (Anne Steeb, Bernd Müller) des uninformativen Einführungstextes. Beispiel: „Daneben liegen uns verlockende (sic) Hinweise auf Zeremonien vor, bei denen Musik eine Rolle gespielt haben muß“, und ziemlich daneben liegt auch der Vorwortschwätzer Graham Dixon. „Es wäre denkbar, daß diese Verbindung im Verein mit der (sic) annähernd 200 Jahre früher erfolgten dynastischen Bündnis einen Zustrom englischer Musiker auslöste; wenn dem so ist, wurden ihre Spuren allerdings geschickt verwischt“, offenbar geschickter, als hier die Spuren der Logik verwischt wurden. „He has also sung ... in concerts“ ist dummdreist übersetzt als „und produzierte sich bei mehreren Konzerten“. Viel mehr erfährt man nicht über den Sänger Lesne. Dennoch, die Platte selbst ist — auch in aufnahmetechnischen Details —, was die Gesangsstücke betrifft, gut gelungen.

Gérard Lesne: O lusitano. Virgin Classics 262398.

WELCHEERLÖSUNG,WENNWIEDERGESANGEINSETZT