KOMMENTAR: Gleichgesichter
■ Reflexe statt Reflexionen bei den Grünen in Berlin
Die Grünen, würde es im Bonner Parteien-Jargon heißen, haben ihre Hausaufgaben gemacht. Das Bündnis mit dem „Bündnis 90“ ist in Berlin besiegelt worden, aus der Dynamo- Sporthalle ist kein zerstörerischer Streit zu melden, das Programm lief wie geplant.
Wer also mit bescheidenen Erwartungen Bilanz zieht — der grüne Bundesvorstand geht augenscheinlich von diesem Maßstab aus und hält die Partei für konsolidiert — hat nichts zu klagen.
Aber wer wirklich noch etwas von den Grünen will, wer womöglich daran denkt, sie könnten, müßten, sollten ein Faktor sein, weil die labilen politischen Konstellationen in der Bundesrepublik zu neuen Koalitionen drängen, der muß über die Fassade dieser allzu ordentlichen Partei erschrecken. Von den Grünen geht ein fast fades Odium aus: Im Zweifelsfall wird unpolitische Übereinstimmung dem Risiko neuer Experimente vorgezogen, so beim fast nur noch formalen und wahlarithmetisch motivierten Zusammengehen mit dem Bündnis 90. Die fragwürdige Sicherheit altradikaler Positionen siegte, wenn es darum ging, sich der Wirklichkeit zuzuwenden, so beim Einwanderungsthema. Und es schmerzt geradezu, wie die Grüne Partei, ursprünglich der Ort von Individualität und Emanzipation, Gesichter und Gesicht verloren hat. Der Preis für die basisdemokratischen Ansprüche war zu hoch: Die Grünen haben Individualität, politisches Vorpreschen, den Mut zu Meinung und Verantwortung so gründlich abgeschliffen, daß nun ein blasser, vorsichtiger, fast egalitärer Verein übriggeblieben ist.
1989 war das beklagenswert, heute ist es fatal. Denn kein Naturgesetz schützt die Grünen vor den Schwierigkeiten des Umbruchs: allgemeine Orientierungslosigkeit und Unsicherheit auch hier. Wie in anderen Parteien wächst unter solchen Umständen in den Reihen der Grünen die Neigung, sich an dem festzuhalten, was einmal gültige Wahrheit war. Verläßlich scheint dann zum Beispiel, es anders als die anderen zu machen — denn radikale Kritik am etablierten Modell kann ja nicht ganz falsch sein. Reflexe statt Reflexionen: Bei der Einwanderungsdebatte kultivierte dieser Parteitag eine Art alternativen Populismus und bewies nur, daß der nicht besser ist als jeder andere.
Die Grüne Partei kann es sich nicht mehr leisten, daß die, die in den Ländern grüne Politik machen, auf Bundesebene vornehme Zurückhaltung üben. Verständlich mag es ja sein, daß Fischer, Vollmer und andere wenig Lust haben, sich zum zehnten Mal von einer Bundesdelegiertenversammlung abkanzeln zu lassen — vertretbar ist es nicht. Auch darin unterscheidet sich die Grüne Partei nicht von anderen: Ob sich neue Ideen und Orientierungen durchsetzen, das hängt am Führungspersonal. Eine Partei der Gleichgesichter wird das Wagnis unabgesicherter Politik nicht eingehen. Tissy Bruns
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