DEBATTE
: Für ein Ende der „bleiernen Zeit“

■ Vier RAF-Frauen entstiegen der Unsichtbarkeit

Was für ein Mythos ist das, RAF? Ich weiß es nicht, kenne dieses Stück fremder deutscher Geschichte nur aus zweiter Hand. Aus dem Mund meiner Freunde (West), die im Herbst 1977 das erleben mußten, was für uns 40 Jahre lang Alltag war— der totale Polizeistaat. Durch das Brennglas Margarethe von Trottas, einen Film von würgender Härte. Doch eines vermochte auch er nicht erfahrbar zu machen: Das, was kein Film, kein Bericht, kein Buch erfahrbar machen kann — die wirklich bleierne Zeit! Jene lähmende Dauer von Stunden, Tagen, Monaten und Jahren, die Einzelhaft heißen.

Wie viele sinnliche Erfahrungen hat jeder von uns in 15 Jahren gemacht? Wie viele Wälder gesehen, Kneipengänge absolviert, Nächte durchgeliebt? Mit wie vielen Menschen haben wir uns gestritten, wie viele Straßen sind wir entlanggegangen?

Am Wochenende also gab es eine Änderung im Fernsehprogramm — statt der Golden Girls die RAF- Frauen. Ein Zeitdokument — und trotz sensibler filmischer Regie ein makabres Hoheitsgebiet, dem sich der Fernsehkonsument voyeuristisch nähern durfte.

Ich gestehe, ich vermochte diese vier Frauen nicht als „Kommandoebene“ zu denken; ich gestehe, ich assoziierte „Selbsthilfegruppe“. Die Sprachhülsen waren mir fremd, die Zeichen dazwischen bedrückend nahe. Es waren die Zeichen einer bleiernen Zeit, einer Haftdauer vom Ausmaß eines Generationswechsels. Ich sah nicht „Kommando“, sondern Frauen mit eingegrabenen Gesichtszügen, keine Dämonen, sondern erschöpfte Menschen. Beobachtete die mühsame Überwindung von Sprechhemmungen, hörte seltsam mädchenhohe Stimmen. Romane lesen, um nicht zu vergessen, was Leben ist. Kunstlicht, das sich noch in den Schlaf brennt, weil es keinen Moment lang die Anonymität von Dunkelheit zuläßt. Ein dauerhafter Alptraum. Einer meiner Freunde fiel mir ein: Mit Gewalt mußte er nach jahrelanger Einzelhaft aus dem Gefängnis geschoben werden; er hatte Angst vor dem, woran er sich kaum noch erinnern konnte: Menschen.

Wenn also von einem alerten Moderator die „dürftige Argumentationslage“ der Totalisolierten konstatiert wird, so mag das genau beschrieben sein — es wirkt dennoch zynisch.

Ich habe große Schwierigkeiten mit dem Denken von Menschen wie Irmgard Möller, habe Mord zu keiner Zeit als revolutionäre Tat begreifen können, sondern immer nur als Mord. Doch ich frage: Was für ein lächerliches Abschwören wird hier verlangt? Wem nützen Konvertiten mit Lippenbekenntnissen? Kann auf ein medienwirksames Zerbrechen jener Krücke nicht verzichtet werden, ohne die vielleicht ein Überleben von Isolationshaft für manche nicht möglich gewesen wäre?

Im Verhältnis zur DDR-Justiz, diesem Pitbull der SED-Führungsclique, prangt die (heutige) Westjustiz tatsächlich als Teil eines vergleichsweise milden Rechtsstaates. Doch die Haftbedingungen für Terroristen zeigten immer die Sprache der Rache, nicht des Rechts. Schon deshalb sollte — und unabhängig vom Selbstverständnis der Inhaftierten, über das man lächeln, den Kopf schütteln oder Beifall klatschen mag— entlassen werden, wer 15 Jahre hinter Haftmauern saß. Mit dieser Zeitdauer ist jede Schuld gesühnt — ganz gleich, ob eine Tat als Schuld begriffen wurde oder nicht.

Mit welchem juristischem Maß wird im vereinten Deutschland gemessen?

Als die Mauer fiel, hat ein Stasi- Überläufer seinen neuen Dienstherren eine Morgengabe überreicht: die Liste mit den in die DDR entschlüpften RAF-Aussteigern. Dem Mann dürfte es heute blendend gehen, wie so vielen seiner Genossen. Der Verfassungsschutz hat also Stasi-Mitarbeiter ohne Wimpernzucken integriert — eines Geheimdienstes, der wohl Zigtausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat. Wieso aber hat er nicht getan, was auch er gut beherrscht — die Liste einfach verschwinden zu lassen? Gefahr ging von den Aussteigern wohl keine mehr aus, und gebüßt hatten sie auch schon: zehn Jahre in einer furzbiederen DDR-Kleinstadt versteckt zu sein — unter Angst und geliehener Identität, stets den stockkonservativen Knechten der Stasi am Bandel... Das war auch Strafe.

Schief wird gerichtet, und wenig glaubhaft. Allein dieses Unverhältnisses wegen plädiere ich für einen Schlußstrich unter das Kapitel „bleierne Zeit“, für eine Amnestie ohne jeden Zwang zu Lippenbekenntnissen. Freya Klier

Schriftstellerin, lebt in Berlin, ehemalige Bürgerrechtlerin