Bündniswille und Prinzipienfestigkeit

Der Grünen-Parteitag in Berlin beschließt Zusammengehen mit Bündnis90/ Nach heftiger Debatte über die Einwanderungspolitik setzen sich die überkommenen Positionen durch  ■ Von T. Bruns und M. Geis

Überall Sonnenschirme. Darunter fröhlich diskutierende Menschen. Rabarbersaft aus FNL-Produktion zu Paella oder Bockwurst. Die Plätze auf den Bierbänken — schon besetzt. Hohenschönhausen, Berlin (Ost). Eine sommerliche Oase auf einem riesigen Parkplatz. Die Sonnenschirme mit Aufdruck „Die Grünen“.

Auch drinnen, in der Dynamo- Sporthalle scheint die Sonne: „Die Grünen stehen in der Öffentlichkeit so gut da wie seit Jahren nicht mehr“, beginnt Ludger Volmer den politischen Bericht des Bundesvorstands. Sein „strategisches Ziel“: Der „Wiedereinzug in den Bundestag“. Auf „drei Schienen“ — so Volmers Analyse — rollt der grüne Zug dem Ziel entgegen: kompetente grüne Landespolitik, Entwicklung einer neuen Bundespolitik und — erwartetes Hauptthema des grünen Delegiertentreffens — die „Zusammenarbeit mit dem Bündnis 90“. Um die geht es auf dem Parteitag. Hier liegt der Schwerpunkt grüner Vorstandsarbeit, auf dessen „stille Diplomatie“ nicht zuletzt auch das Votum des Bündnisses für eine gemeinsame Organisation zurückzuführen sei. Der Vorstand habe den „Dialogprozeß“ zwischen beiden Organisationen „in realistische Bahnen gelenkt — auch um den notwendigen Preis der Ernüchterung“. Mahnung an die Delegierten: „Das, was jetzt gewonnen ist, darf nicht zerredet oder mit Illusionen überfrachtet werden.“ Die Mahnung wird beherzigt. Die grüne Debatte über die inhaltlichen Chancen der bevorstehenden Fusion findet nicht statt. Marianne Birthler, die zusammen mit ihren SprecherkollegInnen vom Bündnis, Wolfgang Ullmann, Petra Morave und Werner Schulz, zum Parteitag gekommen ist, referiert noch einmal aus der Perspektive des Bündnisses Risiken und Chancen des gemeinsamen Projektes, das sich in „gegenseitigem Respekt“ entwickeln müsse. Am Ende könne es nicht um eine „neues Linksprojekt“ gehen, sondern um eine „Politik ohne Dogmen“.

Doch um den Politikbegriff des neuen Projekts wurde nicht gestritten. Die Schwierigkeiten und Chancen, „die Traditionen von 1968, der neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre und der friedlichen Herbstrevolution von 1989 zu einem gemeinsamen politischen Projekt zu verschmelzen“ — so ein später zurückgezogener Antrag —, wurden nicht thematisiert. Statt dessen begnügte man sich, nach lustlosem Wortgeplänkel, den Antrag des Bundesvorstandes mit ein paar grünen Essentials — Frauenquote, Neumünsteraner Grundkonsens und Umbauprogramme — anzureichern und zu verabschieden. Grünen-Sprecherin Christine Weiske beschwört „die Geburt einer bürgerbewegt-grünen Kraft für dieses nach rechts driftende Land“. Eine „erschreckend niveaulose Debatte“ resümierte Hubert Kleinert. Die Bündnisvertreter machten gute Miene. Werner Schulz wertete immerhin die gefällte Grundsatzentscheidung als Erfolg. Das Aufgebot sei damit bestellt. Irgendwie habe er doch das Gefühl, „daß die hier gespannt sind auf uns“.

Der Beschluß zur zukünftigen Kooperation will „die Besonderheiten beider Partner“ bewahrt sehen. Das Bündnis dürfe nicht dem „Gesetz der größeren Zahl unterworfen werden“. Gleichzeitig müsse das Prinzip innerparteilicher Demokratie berücksichtigt werden. Bis Ende Oktober soll ein Vertragsentwurf vorliegen, der dann im Januar 1993 von den Parteitagen beider Organisationen verabschiedet werden könnte. Im April soll die gemeinsame Organisation aus der Taufe gehoben werden.

Am Samstag abend dann doch noch grüne Debatte: Asyl- und Einwanderungspolitik. Die Generalprobe künftiger Zusammenarbeit scheitert. Antrag A1 für „eine humane und differenzierte Einwanderungspolitik“, der auf den Positionen der Bundestagsgruppe des Bündnis 90/Grüne basiert, findet keine Mehrheit. Das Motto der Bundesgrünen bleibt „offene Grenzen“. „Alte Reflexe statt Problemwahrnehmung“, wertet Gerald Häfner die Entscheidung. Über die Stimmungslage des Parteitags gab schon die Eröffnungsrunde Aufschluß: Claudia Roth, Europa-Abgeordnete, begründete die Ablehnung einer differenzierten Einwanderungspolitik und traf die Stimmungslage der Delegiertenmehrheit. „Systematisch wird [...] mit den Bildern von der Welle, die uns überflutet, eine Katastrophenstimmung erzeugt, die sich trefflich für eine Verschärfung geltenden Rechts mißbrauchen läßt.“ Die Delegierten beklatschten die Behauptung, das Problem sei nur gemacht, ebenso wie dreißig Sekunden vorher die dramatische Schilderung: „20 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Kriegen und Bürgerkriegen, vor Verfolgung und Unterdrückung...“ Das Credo: „Was wir brauchen, ist ganz dringend eine radikal neue Flüchtlingspolitik, die sich an die Wurzeln heranwagt.“ Praktisch gewendet: „Unser Weg ist, kompromißlos an den Forderungen nach Abschaffung des Ausländergesetzes, an den Forderungen nach Wahlrecht für alle hier Lebenden [...] festzuhalten.“

Gegen den Wunsch, die tradierte Position festzuhalten, hatten es andere Argumente schwer. Der grüne Fraktionschef in Hessen, Rupert von Plottnitz, votierte für eine gezielte Einwanderungspolitik: Wer behaupte, es gäbe kein Flüchtlingsproblem, käme in gefährliche Nähe zu denen, die behaupten, es gäbe kein Problem mehr, wenn nur der Asylartikel wegfiele. „Es gibt auch einen Populismus im Umgang mit der eigenen politischen Moral, der politisch folgenlos und schädlich ist.“ Roland Appel, links-grüne Identifikationsfigur aus NRW, erzielte mit seiner Behauptung, es gäbe „kein Zuwanderungs-, sondern ein Unterbringungsproblem“, am Ende nicht nur Klatscherfolge, sondern auch das entsprechende Ergebnis: Antrag A1 scheiterte mit 169 gegen 225 Stimmen. Für den Antrag Trittin, der ein Einwanderungsgesetz vorsah, entschieden sich in der Schlußabstimmung 185 Delegierte, 223 votierten für „offene Grenzen“ und Bleiberecht für alle.

Fast en passant äußerte sich die grüne Partei am letzten Tag noch zum Paragraph-218-Kompromiß. Keine Überraschung, daß sich gestern morgen dann auch hier die Radikalkritik am Gruppenantrag durchsetzte — inklusive der Kritik am neuen „Bündnis“-Partner Wolf„gang Ullmann, der die Gesetzesinitiative mit unterzeichnet hat.

„Wir wollen uns nicht einmauern“, hatte Ludger Volmer zu Beginn des Parteitages versprochen. — Der Rest war dann wieder sonniger Ausklang im Freien.