Wahrheitsfindungsmaschine Justiz

Gesetzesvorhaben zur Organisierten Kriminalität im Mittelpunkt des 16.Strafverteidigertags  ■ Aus Hamburg Lisa Schönemann

„Unschuldslämmer sind selten“, pflegt der Sprecher der Insassenvertretung im Hamburger Gefängnis Santa Fu zu sagen. Zu Unrecht Verurteilte haben kaum eine Chance, nachträgliche Entlastungszeugen zu präsentieren und einen erneuten Prozeß anzustrengen. Auf die Hoffnungslosigkeit eines solchen Unterfangens wies Rechtsanwalt Gerhard Strate auf dem 16.Strafverteidigertag hin und plädierte für eine Reform des Wiederaufnahmerechts. Das Advokatentreffen, zu dem am Wochenende 350 RechtsanwältInnen nach Hamburg reisten, nahm vor allem die Bonner Gesetzesvorhaben zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität unter die Lupe. Ihre Hauptforderung lautete: Entkriminalisierung. Denn nur durch sie hoffen die StrafverteidigerInnen auf eine Entlastung des überforderten Justizapparats. Aber auch Justizirrtümer beschäftigten die AnwältInnen.

Die „Wahrheitsfindungsmaschine Strafjustiz“ habe den „kleinlichen Ehrgeiz“, ihren „guten Leumund zu erhalten und Mehrarbeit zu vermeiden“, so Strate. Wiederaufnahmebegehren würden von den Gerichten über Jahre abgeblockt. Als krasses Beispiel nannte der Hamburger Verteigiger den Fall eines Anfang der 70er Jahre unter anderem wegen Kindmordes zu lebenslanger Haft verurteilten Mannes, der 1987 schließlich wegen offensichtlicher Unschuld freigesprochen wurde. Im ersten Strafverfahren war übersehen worden, daß der Angeklagte eine andere Blutgruppe aufwies als der gesuchte Täter.

Gesetzesvorhaben zur Organisierten Kriminalität und zur angeblichen Entlastung der Rechtspflege standen im Mittelpunkt der Diskussion. Seit in Bonn an tiefen Einschnitten in Beschuldigtenrechte und einer Ausdehnung polizeilicher Machtbefugnisse gebastelt wird, stehen die Strafverteidiger mit dem Rücken an der Wand.

Nach den Worten Gerhard Strates „greift der Präventionsstaat in die Vollen“. Etwa wenn eine Grundgesetzänderung den „großen Lauschangriff“ auf Personen ermöglichen soll, denen unmittelbar nichts vorgeworfen wird, außer, daß sie Kontakt zu einem Verdächtigen halten. Dieter Grimm, Mitglied des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, formuliert dazu: „Der Einzelne kann den Staat nicht mehr durch legales Betragen auf Distanz halten.“

In einer Zeit, in der die verängstigte Gesellschaft sich mit Aromatherapien und privatem Bunkerbau seelisch über Wasser hält, haben Entkriminalisierungstendenzen keine Konjunktur. Eine Arbeitsgruppe befaßte sich dessen ungeachtet mit Vorschlägen für den Bagatellbereich. Gemeint sind Massendelikte wie Kaufhausdiebstahl und Fahrerflucht, mit denen die Rechtspflege im Übermaß beschäftigt ist. 1989 wurden insgesamt 888.000 Menschen durch den Justizapparat geschleust. In 199.000 Verfahren stand ein erwischter Dieb vor Gericht. Dabei lag der Wert der Beutestücke in 80 Prozent der Fälle unter 100 Mark. Die Anwälte holten zur Entlastung der Justiz einen Reformvorschlag aus den 70er Jahren aus ihren Schubladen. Kaufhausdiebstahl könnte außergerichtlich mit dem doppelten Ladenpreis geahndet werden.

Die Münchener Rechtsanwältin Marianne Kunisch warnte derweil auf dem Strafverteidigertag die Kriminalpolitik davor, insbesondere „die Welt der Jugendlichen nicht zu eng werden zu lassen“. Sie plädierte für eine Anhebung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 16 Jahre. „Jugendliche Delinquenz ist im statistischen Sinne normal“, so Kunisch, meist bleibe es bei einer Episode.