Jenseits der europäischen Wirklichkeit

■ Fotoarbeiten der Mexikanerin Graciela Iturbide in der Kreuzberger Galerie »Im Kabinett«

Jenseits des Ohrs gibt es einen Ton; am äußersten Rand eines Blickes — Aspekte von Dingen, am Ende des Fingers — ein Objekt. Das ist der Ort, wohin ich gehe«, schrieb die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector. — Fast scheint es, als hätte eine andere Südamerikanerin, die mexikanische Fotografin Graciela Iturbide, die hypnotisierende Leichtigkeit der Lispectorschen Sprache aufgenommen und — nicht mit Worten, sondern mit Bildern — gespiegelt. Sie hat Wahrnehmung hergestellt von etwas, auf daß es existiere. Unbeachtet von den Medien sind einige der Arbeiten Graciela Iturbides, die letztes Jahr auf der Fotointernationalen in Arles eine große Retrospektive hatte, seit März in Berlin zu sehen.

Eine Frau steht nackt gegen die Wand gedrängt, rechts und links von ihr unordentlich hingeworfene Klamotten und Schuhe, links aus dem Bildrand fallend ein Plüschtier, aber über ihr und auf der Seite, in die sie schaut, hängt groß an der Wand ein Kruzifix, dessen drei dunkle Blutflecken an Knie und Brust die Verdunklungen von Brustwarzen und Schamhaaren der Frau spiegeln. Ein ganz unkonventioneller Frauenakt in bedrängter räumlicher Enge. Kruzifix und körperliche Sinnlichkeit stehen nebeneinander und sind kein Widerspruch. Ein anderes Frauenporträt, nicht minder dramatisch, zeigt eine frisierte, geschminkte, mit glitzernden Ohrringen geschmückte Frau, die an einem Kneipentisch sitzt, eine Zigarette in der Hand, ein ausgetrunkenes Glas vor sich. Die Frau blickt zweifelnd und leicht schielend aus dem Bild. Hinter ihr eine Wandzeichnung, die sich erst bei näherem Hinschauen als Totenkopf entpuppt, in dessen Augenhöhlen Krankenbetten und in dessen Nasenhöhlen ein Sarg gemalt wurden. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der das Ende des Lebens und damit das Ende des Sehens, Hörens, Begreifens und Greifens angedeutet ist, stellt der zweifelnde Blick der Frau eine Kontinuität her zwischen unabänderlichem Schicksal und unerfüllter Sehnsucht.

Graciela Iturbides fotografische Arbeiten sind eine Auseinandersetzung mit der Objektivität, die ein Foto vorgibt abzubilden, und der subjektiven Herstellung einer abgebildeten Realität. Sie geben sowohl einen Einblick in die sichtbare Welt der mexikanischen Kultur und Spiritualität wie des mexikanischen Alltags, selten jedoch verzichten sie auf gestalterische Techniken, die ihren subjektiven Standpunkt nicht auch zeigen.

Frauen jeden Alters, Engel, Heilige und Kinder, maskentragende Verkörperungen mexikanischer religiöser Traditionen, Sinnlichkeit und Mystifikation, hispanische Referenzen des katholischen Kirchenkultes, verbunden mit dem auf alten aztekischen Traditionen beruhenden kultischen Umgang mit Religion, die Vereinbarkeit von Mensch und Natur, die »Stadt der Frauen« Juchitán, die kulturelle Vielfalt und der imaginative Reichtum Mexikos: das sind die Themen, mit denen sich Graciela Iturbide beschäftigt. Ihre Fotos zeigen den Menschen immer in einer realen Umgebung, auch wenn das Ergebnis der Abbildung nicht mehr als real zu denken ist. Eine Verschleierte geht einen Felsweg entlang, vor ihr liegt eine vegetationsarme Wüste. In der rechten Hand — und fast im Mittelpunkt des Bildes — balanciert die Frau einen Transistorradio. Welche Welt trifft auf welche Welt? Ein anderes Bild zeigt eine Frau in einer Toilette. Nackt sitzt sie auf der hellen Kloschüssel. Ihr weiches Fleisch, das sich beim Sitzen in Falten legt, wiederholt die waagerechte Struktur der Backsteinmauern. Das Gesicht ist der Kamera zugewandt, sie verdeckt es jedoch ganz mit der linken Hand. Es ist keine Geste der Scham. In der rechten Hand hält sie eine Wasserschüssel, vor ihr liegen die Badeschlappen. Wer betrachtet? Immer wieder thematisiert Graciela Iturbide die Frage nach der Identität der Betrachtenden, indem sie Bilder wählt, die nach der Identität der Abgebildeten fragen. Spiegel, die die unsichtbare Seite der Porträtierten zeigen, werden eingebaut, Masken, androgyne Menschen, Transvestiten und versteckte Gesichter.

Eigentlich kommt Graciela Iturbide vom Film, seit 1970 jedoch arbeitet sie als Fotografin unter anderem auch für die ethnographische Abteilung des Nationalen Instituts der Eingeborenen von Mexiko. Um die Verschmelzung von Natur, Umwelt, spirituellen Traditionen und Menschen sichtbar zu machen, benutzt sie vor allem das technische Repertoire der Dokumentarfotografen, läßt Unschärfen, abgeschnittene Details — mal den Kopf, mal die Füße — und andere schwere Sünden der Fotografie jedoch großzügig zu. Gerade damit aber macht sie deutlich, daß ein Foto immer ein Ausschnitt der Realität und damit Fiktion ist. Für europäische Augen sind es die Bildinhalte, die an sich schon jenseits jeder Wirklichkeitserfahrung liegen. Das Porträt einer Frau, die einen Kranz Leguane um den Kopf trägt, ist gleichzeitig auch das Porträt der Leguane. Leicht von unten nach oben fotografiert, liegen sie wie ein vierzackiger Strahlenkranz um den Kopf der Frau, und sowohl die Tiere als auch die Frau werden durch den Platz, den sie in dieser Symbiose besetzen, erhöht. Kann sein, daß die Tiere getötet werden mußten, um die Krone der Frau zu werden, aber als Krone sind sie Symbole der Macht.

Der Fotoapparat sei der Vorwand, der es ihr ermögliche, am Leben anderer Menschen teilzuhaben. Sie sei die Zeugin der poetischen Dimension der Menschen, des Zaubers, vielleicht sogar der Magie des Alltags. Sie sehe eine Situation, sie fotografiere sie, und sie entdecke die Bilder später. So wird Graciela Iturbide in einem Portfolio, das die französische Zeitung 'Libération‘ über sie zusammenstellte, zitiert — die Frage danach, ob die Wirklichkeit oder die Abbildung der Wirklichkeit zuerst da war, ist vom poetischen Standpunkt aus unwichtig. Waltraud Schwab

Eine Auswahl ihrer Arbeiten zusammen mit einigen wenigen Werken der ebenfalls mexikanischen Künstlerin Eugenia Vargas sind noch bis zum 23. Mai in der Galerie »Im Kabinett«, Solmsstraße 30, zu sehen. Di. bis Fr. 14-19, Sa. 11-16 Uhr.