Lob der Glatzen

■ Jacques Derrida, Dr.h.c. in Cambridge

540 (in Worten: fünfhundertvierzig) Professoren hatten sich am Samstag in Cambridge (GB) versammelt, um den Vorbehalt vierer Professoren gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den französischen Philosophen Jacques Derrida niederzuschlagen: Derrida, der 1930 geborene Megastar poststrukturalistischer Philosophie, bekommt, was ihm zusteht.

Das Statement von Professor Erskenine Hill, daß es überhaupt zu einer Abstimmung gekommen sei, sei für Derrida peinlich, sagt einiges über den Zustand der Geisteswissenschaften. Man hat sich eingerichtet in allerlei Nischen, in denen die eigenen veralteten Theorien über Jahrzehnte als Selbstplagiate gepflegt werden; verkommen ist der Disput, der „Dialog“ der Antike.

Die Abstimmung über Derrida war in Cambridge, wie Beobachter sagten, eine Generationenfrage: „Auf der Seite der Jastimmen sah man wesentlich mehr Haar, während bei den Neinstimmen Grau, Weiß oder gar kein Haar überwog.“ Sie, die Glatzköpfe, sind zu loben. Denn sie haben es gewagt, die Frage nach Qualität und Geltung wieder zu stellen. Erst in dem Moment, wo die Messer gezückt werden, wird sichtbar, wie gut die Leute bewaffnet sind. Somit ist deutlich geworden, wie grotesk Derridas Philosophie mißverstanden wird. So wird — bis zu den Tickern von 'dpa‘ — behauptet, die gesamte westliche Philosophie beruhe „auf der falschen Annahme, daß man sich auf die wahre unverrückbare Bedeutung von Worten und Begriffen verlassen könne“, womit der Denker „Nihilisten Tür und Tor öffne“. Man muß sich natürlich nicht wundern, daß die Engländer, Positivisten von Herzen, mit den Dekonstruktivisten ihre Schwierigkeiten haben. Aber Derridas Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik ist sehr wohl eingebunden in die Geschichte einer Philosophie, die ihre Geschichte neu zu schreiben gerade begonnen hat. 25 Jahre sind— in den späten Sechzigern erschienen die ersten wichtigen Arbeiten Derridas (Grammatologie, Die Schrift und die Differenz) — in der Philosophie natürlich „keine Zeit“; aber viel Zeit, wenn man aufgehört hat zu lesen, was einem nicht in den Kram paßt. Wer die „différance“ nicht kennt, hat verpennt. uez