piwik no script img

KOMMENTARDer englische Weg bleibt versperrt

■ Die Gewerkschaften haben sich als stark genug erwiesen, Politikern und Unternehmern einen sozialen Interessenausgleich abzutrotzen, aber das vordemokratische Verständnis von ...

Der englische Weg bleibt versperrt Die Gewerkschaften haben sich als stark genug erwiesen, Politikern und Unternehmern einen sozialen Interessenausgleich abzutrotzen, aber das vordemokratische Verständnis von Arbeitskonflikten in der Öffentlichkeit bleibt

Der Streik in der Metallindustrie findet nicht statt. In die Erleichterung, die nun allenthalben geäußert werden wird, mischt sich ein häßlicher Unterton, der bereits die gesamte Tarifauseinandersetzung dieses Jahres begleitet hat und in diesem Land offensichtlich zum Traditionsbestand der politischen Kultur gehört. Streik als spezifische Form des zivilen Ungehorsams von abhängig Beschäftigten wird immer noch nicht als ureigenstes, wertvolles demokratisches Recht gesehen, Arbeitnehmerinteressen auch im industriellen Konflikt zu vertreten, sondern als unverantwortliche Unruhestiftung, als egoistischer Affront gegen das Allgemeininteresse. Dieses vordemokratische Verständnis vom Arbeitskonflikt wird nicht nur von Arbeitgeberverbänden und konservativen Politikern gepflegt. Als antigewerkschaftliches Ressentiment wirkt es weit hinein bis in das meinungsbildende Bürgertum, dessen alternative Ableger in West und Ost nicht ausgenommen.

Auch die deutschen Gewerkschaften sehen den Arbeitskampf, der für sie selbst und die Mitglieder immer mit hohen Risiken und Verlusten verbunden ist, als „letztes Mittel“ zur Durchsetzung ihrer Forderungen an. Sie mußten dieses „letzte Mittel“ in diesem Jahr in zwei Branchen, bei den Banken und im öffentlichen Dienst, einsetzen, um eine in den letzten Jahren beispiellose politische Offensive gegen die sozialen Interessen ihrer Mitglieder abzuwehren. In zwei weiteren Branchen, in der Stahl- und in der Metallindustrie, mußten sie bis an die Grenze des Streiks gehen, um die Unternehmer zu einem Kompromiß zu zwingen, der im wesentlichen nichts weiter beinhaltet als den Ausgleich der Inflationsrate, also den verteilungspolitischen Status quo.

Der Abschluß in der Metallindustrie markiert das vorläufige Ende dieser Kraftprobe. Die noch offenen Tarifauseinandersetzungen dieses Jahres können den Abschlüssen im öffentlichen Dienst und Metallbereich nur noch unwesentliche Variationen hinzufügen. So kann ein vorläufiges Resümee der politisch aufgeladenen, konfliktreichen diesjährigen Tarifbewegung gezogen werden: Der englische Weg einer weitgehenden Zerstörung sozialer Interessenstrukturen der abhängig beschäftigten Bevölkerung ist den Konservativen in Deutschland nach wie vor versperrt. Die deutschen Gewerkschaften sind nach wie vor in der Lage, Politik und Unternehmern den sozialen Interessenausgleich abzuringen, auch wenn dies durch die Folgen der deutschen Einheit deutlich erschwert ist.

Nun wird sich die Politik zumindest bis zum nächsten Jahr andere Wege suchen müssen, um die sozialen Probleme in Gesamtdeutschland anzugehen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die Regierung sich erst jetzt zur Streichung des milliardenschweren Jäger 90 durchringen konnte, nachdem klar war, daß sie das Geld von den kleinen Leuten im öffentlichen Dienst Westdeutschlands nicht holen kann. Und vielleicht werden auch jene in Ostdeutschland, die heute noch nicht verstehen, weshalb die Gewerkschaften im Westen nicht alles mit sich machen lassen, schon morgen froh sein, daß es in Deutschland eben noch immer anders ist als in England. Martin Kempe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen