KOMMENTARE
: Der Tod einer Überlebenslüge

■ Das Geständnis von Peter-Jürgen Boock verstört seine Freunde und Unterstützer. Der RAF-Gefangene mit der höchsten Strafe der bundesdeutschen Rechtsgeschichte ist aus einem selbst gebauten Gefängnis von Zwecklügen ausgebrochen.

Für all jene, die sich seit 1981 für den RAF- Aussteiger Peter-Jürgen Boock eingesetzt haben, kommt sein zweites Geständnis zwar nicht mehr vollkommen überraschend, doch was er jetzt aussagte, hat es in sich. Er habe bei der Ermordung Pontos das Auto gefahren, offenbarte er sich gegenüber der Bundesanwaltschaft. Weiterhin habe er bei der Entführung Hanns Martin Schleyers, bei der vier Begleiter förmlich durchsiebt wurden, selbst mitgeschossen. Schließlich habe er die Waffen besorgt und präpariert, mit denen sich im Oktober 1977 Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis von Stuttgart- Stammheim unter staatlicher Aufsicht erschossen.

Jeder Angeklagte hat das Recht zu lügen, so auch Peter-Jürgen Boock. Ebenso läßt es sich niemandem verdenken, wenn er, um die Freiheit wiederzuerlangen, die Unwahrheit sagt. Daß erst wenn kein anderer Ausweg mehr offen bleibt, Aussagen korrigiert und Geständnisse abgelegt werden, ist von Straftätern jeglicher Couleur ebenso bekannt, wie moralisch verwerflich.

Boock hat es wie kein zweiter RAF-Aussteiger geschafft, Rechtsanwälte, Journalisten und andere einflußreiche Personen für sich einzunehmen. Erstklassige Anwälte wie Sebastian Cobler, Heinrich Hannover, Wolf Römmig, Johann Schwenn oder Hans-Wolfgang Sternsdorff haben ihn mit großem Engagement verteidigt. Heinrich Albertz, Peter Schneider, Carlchristian von Braunmühl, Marion Gräfin Dönhoff und andere mehr haben sich bei Richard von Weizsäcker für seine Begnadigung eingesetzt.

Ich selbst habe ihn immer wieder in der Hamburger Haftanstalt Fuhlsbüttel besucht. Gelegentlich kamen wir in den langen Gesprächen über die Geschichte der RAF an Punkte, an denen ich nicht weitergefragt habe, weil ich fühlte oder mir dachte, daß Boock dann seine Lüge zur nützlichen Wahrheit machen müßte. Ich muß mir heute den Vorwurf machen, warum ich es damals nicht genauer wissen wollte. Der Grund war: Mir ging es in diesen Gesprächen weniger um die Aufklärung seiner individuellen Schuld als um eine politische Lösung für den nicht erklärten Bürgerkrieg zwischen RAF und BRD. Für diese Kampagne war der nachdenkliche, kluge Boock eine entscheidende Figur. Ich funktionalisierte ihn also ebenso, wie er mich und andere funktionalisiert hat. Seine Jugend in Heimen und seine lange Opiatsucht hatten ihn gelehrt, sich andere Menschen dienstbar zu machen.

Peter-Jürgen Boock war gleichzeitig, spätestens als er in seinem ersten Verfahren mit dreimal lebenslänglich plus fünfzehn Jahre die höchste Strafe in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte bekommen hatte, das Sinnbild eines Opfers der antiterroristischen Sonderjustiz, des Stammheimer Landrechts. Er war ein von langer, harter Haft gezeichneter Gefangener, den es zu stützen, gar vor dem Selbstmord zu bewahren galt.

Als seine Begnadigung schon sicher schien, meldeten sich RAF-Gefangene aus den Gefängnissen und verkündeten drohend: „seine geschichte ist ein hochgebauter dom auf stelzen.“ Der bereits vereinbarte Freigang Boocks wurde daraufhin gestrichen. Das von ihm so gekonnt gezeichnete Bild eines geläuterten Aussteigers, der bei der Attentatsserie des Jahres 1977 nur noch halbherzig und als Techniker mitgemacht, aber niemals selbst gemordet habe, begann 1990 zu zerspringen: Die RAF- Aussteiger aus der DDR spekulierten als Kronzeugen auf eine Strafminderung — und belasteten Boock. Aus ihren Aussagen wurde klar, daß fünf RAF-Kader deshalb von der Polizei gefaßt wurden, weil sie für ihn Drogen beschafften. Vor diesem Hintergrund erklärte sich endlich der Haß der Gruppe, der gegen ihn weitaus größer war als gegen jeden anderen Aussteiger.

Es ist naheliegend und leicht, sich über Boock jetzt moralisch zu empören. Doch eigentlich ist die Geschichte des Peter-Jürgen Boock unendlich traurig. Es ist die Geschichte eines proletarischen Jugendlichen, der sich in einen tragischen Krieg verstrickte und bei dem Versuch, sich daraus zu befreien, in einem Gefängnis von Zwecklügen einmauerte. Aus diesem Gefängnis ist er jetzt ausgebrochen und wird deshalb noch länger hinter den Gittern von Santa Fu oder gar wieder Stammheim sitzen. Peter-Jürgen Boock ist ein Einzelfall, doch auch für ihn müssen die Maßstäbe der längst überfälligen Kinkel-Initiative gelten: Weiterhin normale Haftbedingungen und die Prüfung der Haftentlassung auf Bewährung spätestens nach 15 Jahren.

Wäre die Prävention die entscheidende Funktion des Strafrechts, könnte er sofort freigelassen werden. Marion Dönhoff urteilte einmal bestechend einfach: „Der schreibt doch jetzt unentwegt Bücher, eine Wiederholungsgefahr ist nicht gegeben.“ Bleibt noch die zweifelhafte Aufgabe des Strafrechts zu sühnen. Boock wird jetzt mit dem Tod seiner Überlebenslüge, mit der Enttäuschung und Trauer seiner Freunde und Unterstützer fertig werden müssen, als einsamer Gefangener. Für einen sensiblen Menschen wie Boock ist das Strafe genug. Michael Sontheimer