Aus Sarajevo nach Hamburg gerettet

Die Flüchtlinge, die Aufnahme bei ihren Verwandten in Deutschland gefunden haben, bangen um die Zurückgebliebenen  ■ Von Peter Hermes

Hamburg (taz) — Als der fünfjährige Musa nach Hamburg kam, hat er erst einmal den Garten und den Spielplatz nach Patronenhülsen abgesucht. „Ich habe gar keine gefunden“, wunderte sich der enttäuschte Dreikäsehoch. Denn in seiner Heimat Bosnien ist das Sammeln von abgeschossener Munition die Lieblingsbeschäftigung der Kinder, sie tauschen dieses „Spielzeug“ wie hierzulande Briefmarken. Die beliebtesten Sammelobjekte: große Patronen von den Bordkanonen der Kampfflugzeuge, die die Stadt im Tiefflug überqueren. Doch seit so ein schießendes Ungeheuer einmal direkt über Musas Kopf hinweg geflogen war, hatte er höllische Angst und konnte nachts nicht mehr schlafen. Abend für Abend verfolgte er im Fernsehen, wie seine Stadt zusammengeschossen wurde. Die Wohnung durfte er kaum noch verlassen.

Mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Elvir (13) und Biha (11) floh Musa vor zwei Wochen aus der von serbischen Truppen und Freischärlern umzingelten bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Von trostlosen Dörfern mit niedergebrannten Häusern, die sie auf der Flucht vom Bus aus im zerstörten Bosnien und Kroatien gesehen haben, von Fliegeralarm und Schikanen an den unzähligen Straßenbarrikaden, die von Kriegern in immer anderen Uniformen bewacht wurden, berichten die Kinder. Die Männer der Familien hätten nicht in den Bussen mitfahren dürfen und sich mit Flößen oder zu Fuß bis zur kroatischen Grenze durchschlagen müssen. Vier Kilometer lang sei die Kolonne von Flüchtlingen gewesen, die zu Fuß über die Grenze nach Kroatien gehen mußten. Sieben Stunden hätten sie in dieser Menschenschlange gestanden.

Unterschlupf fanden sie schließlich bei Musas Tante Elvira K. (Name geändert) im Osten Hamburgs. Sie haben Glück gehabt, einen Tag nach ihrer Flucht wurde die letzte Brücke über den Grenzfluß zwischen Bosnien und Kroatien in die Luft gesprengt. Von Glück reden können sie auch, daß sie erstens Pässe besitzen und zweitens geflohen sind, bevor die Visumpflicht für die nun formal unabhängigen Bosnier durch Deutschland und Österreich eingeführt wurde.

„Das mit der Visumpflicht ist eine Riesensauerei“, beschwert sich Elvira, die auch ihre Nichte Rita (21) und ihren Neffen Muscha (22), Studenten aus Sarajevo, aufgenommen hat. Seit kurzem müßten Kriegsflüchtlinge aus Bosnien hier Asyl beantragen, obwohl sie kaum Gründe für eine politische Verfolgung glaubhaft machen könnten. Sie würden doch sowieso nur für kurze Zeit bleiben und so schnell wie möglich zurückkehren, sobald es einen stabilen Waffenstillstand in Bosnien gebe, versichert Elvira. „Niemand will hier auf Kosten Deutschlands leben“, sagt sie, „aber wir Bosnier in Hamburg möchten unsere Verwandten aus der umkämpften Heimat so lange aufnehmen, bis der Krieg vorbei ist, das ist unser gutes Recht und unsere Pflicht.“ Doch während Hamburg, Niedersachsen und Hessen die Duldung der bosnischen Flüchtlinge versprochen haben, würden sie von den Bayern an der Grenze zurückgewiesen.

An ein nur vorübergehendes Exil glauben auch die Kinder. „Im September müssen wir wieder in die Schule gehen“, sagen Biha und Elvir. Sie hoffen, daß der Krieg nach den Sommerferien vorbei ist, und sehnen sich nach ihrem Vater, ihrer Oma und ihren Freunden, die im umkämpften Sarajevo zurückgeblieben sind.