Loser- und Blues-Wahrheiten

■ Der graugewordene Ex-Sozialarbeiter Kevin Coyne kommt für zwei Tage in den Franz-Klub an der Schönhauser Allee

Mehr als die Hälfte aller Popkonzerte werden von Musikern bestritten, die seit ungefähr zwanzig Jahren im Geschäft sind; Stars, die von drei, vier Hits zehren, die auch schon recht weit zurückliegen, Arbeiter, die ständig unterwegs sein müssen für Frau und Kind und das Reihenhaus im Grünen. Sweet, Hermann Brood, Alvin Lee (inzwischen bei Peter Maffay), Roger Chapman — oder eben Kevin Coyne. Sein kleiner Hit Marjorie Razorblade liegt mittlerweile 19 Jahre zurück.

Der ehemalige Sozialarbeiter war ein Punk vor der Punkerzeit, arbeitete mit dem Anti-Psychiater R.D. Laing, schrieb, malte, sang, verlor sich im Alkoholnebel, ging 1985 nach Nürnberg, tourte durch die »Bierkellers«, landete bei den Anonymen Alkoholikern, war eine Zeitlang Gaststar im Berlin-Musical Linie 1, singt begeistert Hits, die nie Hits waren, und Hymnen, die niemand kennt. Längst hat der 48jährige mit dem sympathischen Siebziger- Jahre-Jungs-Gesicht die Zeit der grauen Strähnen hinter sich gelassen: schlohweiß weht das Haar, blaßblau starren Schweinsäuglein; kompakt wölbt sich der runde Kugelbauch — als Symbol würdevoller Abgeklärtheit.

Kevin Coyne ist in erster Linie ein wunderbarer Live-Musiker. Bei seinen Auftritten läuft er ständig hin und her, saugt tief den Zigarettenrauch in sich hinein, reckt ab und an die Faust empor, läßt Dynamite days im Stakkato vorbeiziehen, ruft ein paar Kampfparolen — »fuck the millionaires« — oder singt a capella was vom »green land far away«, wo all die selbstverständlich Sympathischen »Happy day« singen. Die sind auch in seinem Publikum: die Langhaarigen, die Schnauz- oder Rübezahlbärtigen, die Vierzigjährigen vor allem, die einen Abend lang Urlaub von dem Leben nehmen, das sie nie führen wollten.

Kevin Coyne ist Musik für die, die Koks, Acid, Speed, Ecstasy, Hasch und Vergleichbares als neumodischen Tüdelkram ablehnen und lieber ordentlich einen trinken, denn Alk beruhigt so schön. Auf dem ziemlich perfekten Klangteppich seiner »Paradiseband« thematisiert Coyne näselnd wie Dylan, am Rand der Klarheit oder kurz krächzend handfeste und schöne Loser- und Blueswahrheiten: Alpträume, Rasierklingen, eine »world full of foolness«, in der das Publikum statt verlogener Liebeshysterie wahre Freunde und ein Abschiedslächeln (Victoria smiles) finden wird. Detlef Kuhlbrodt

Heute und morgen um 22 Uhr im Franz-Club, Schönhauser Allee 36-39