Drift zur Unendlichkeit

■ »argo inkognito« von ptt red im Bethanien

Die Themen Raum und Zeit erfreuen sich in den Galerien und Kunstinstitutionen schon seit längerem größter Beliebtheit. Stefan Micheel und Hs Winkler, die mit ihrer Galerie »paint the town red« seit sechs Jahren in der Kreuzberger Naunynstraße ansässig sind, nehmen sich dieser abstrakten Größen derzeit im Künstlerhaus Bethanien mit Zeugnissen einer ungewöhnlichen Expedition an. Im letzten Jahr waren die beiden Künstler nach Barrow gereist, einem ehemaligen amerikanischen Armeestützpunkt im äußersten Norden von Alaska, wo die Sonne sommers vierundzwanzig Stunden lang scheint. Barrow ist eine sogenannte Driftstelle: An der Küste zieht eine Meeresströmung vorbei, die drei Jahre braucht, um zum Nordpol, und ebenso viele, um wieder nach Barrow zu gelangen. Ließe man hier also einen Gegenstand zu Wasser, müßte er nach sechs Jahren zum Ausgangspunkt zurückkommen. Und genau das haben Micheel und Winkler getan. Während einer ganztägigen Wanderung über das Eis setzten sie das Versuchsschiffchen »argo inkognito« aus, nach dem sie nun auch ihre Ausstellung benannt haben.

Die »argo inkognito« ist weniger ein richtiges Gefährt als vielmehr ein Modell in Taschenformat, dessen spitze Form der »Fram« des norwegischen Polarforschers Fritjhof Nansen nachempfunden ist. Vor der Gewalt der Eismassen soll es zudem eine Schicht aus Silikon schützen. Sein Metall jedoch ist magnetisch aufgeladen, und so wird die »argo inkognito« nun stetig nach Norden gezogen, um schließlich den »Gipfel der nördlichen Erdachse« zu erreichen, in dem die beiden 37jährigen Künstler das Sinnbild von Unendlichkeit, von der Aufhebung der Zeit sehen.

Auf die Dokumentation einzelner Arbeitsschritte verzichtet die Ausstellung im Bethanien. Statt dessen haben Micheel und Winkler auf der Mittellinie des verdunkelten Studios zwei kleine Säulen installiert. In der vorderen schwebt eine Kompaßnadel über einer Scheibe, die sich jede Sekunde ein Stückchen weiterdreht. Eine versteckte Lampe läßt diesen Apparat als bewegtes Lichtbild an der Decke erscheinen. In der anderen Säule liegt unter einem Vergrößerungsglas und inmitten eines Häufchens weißer Kristalle eine Aufnahme der »argo inkognito«. An der hinteren Wand schließlich machen Reproduktionen ein und desselben Dias die Zeitlosigkeit arktischer Tage sichtbar. Zusammengehalten werden diese drei Elemente von einer Satellitenaufnahme, die, hoch über den Köpfen der Betrachter angebracht, einen Überblick über die Luft- und Meeresströmungen der Region gibt.

»Argo inkognito« ist nicht das erste Projekt, mit dem die beiden Künstler eine »Öffnung zum Universum« (Micheel) gesucht haben. Die Spitze des höchsten deutschen Berges hatten sie vor zwei Jahren ab- und ins Bethanien getragen, in die Ausstellung ceterum censeo. Ein Jahr später ließen sie ein vergoldetes Bleilot in den Krater des Stromboli, der schon Schauplatz von Jules Vernes Die Reise zum Mittelpunkt der Erde war; drei Monate darauf markierten sie während der Sonnenfinsternis im mexikanischen Bajakalifornien die Zentrallinie des Mondschattens auf einer Sandpiste. Dennoch ließe sich Micheel und Winkler unmöglich der Vorwurf esoterischer Landflucht machen. Die Aktionen, die sie in den Stadträumen inszenieren, sind ganz anderer Art. So zeichneten sie 1990 mit roten Positionslampen imaginäre Achsen durch das gerade vereinte Berlin, im nächsten Jahr folgte während des Golfkriegs die Fensterinstallation jetztzeit — kriegszeit. Und in den U-Bahnhöfen Hannovers täuschten sie die Fahrgäste mit Geräuschen vorüberfahrender Züge, die aus Lautsprechern kamen.

Mit solchen Verfahren zwingen sich Micheel und Winkler nicht nur zu Flexibilität, sondern wollen sich auch die Möglichkeit wahren, zu politischem Geschehen und sozialen Normen Stellungen zu beziehen. Mitunter nehmen die Vorhaben auch direkten Bezug aufeinander. So ist »argo inkognito« die Fortsetzung der Installation alluvium. Vor knapp drei Jahren zeigten ptt red, wiederum im Bethanien, einen fast zwölftausendjährigen antarktischen Eisblock, bevor sie ihn auf die Reise durch Isar und Donau bis nach Budapest schickten, wo sie dem Strom eine Menge Wasser entnahmen. Die Ferne, die bestimmendes Element jener zeiteliminierenden Aktion war, ist in der derzeitigen Präsentation auf ein Minimum geschrumpft. »Argo inkognito« verhält sich umgekehrt zu »alluvium«: Erst in der räumlichen Konzentration des sparsamen Arrangements entfaltet sich die ganze Dimension Zeit. Claudia Wahjudi

Mariannenplatz 2; bis 24. Mai tgl. außer Mo. 14-19 h, Katalog 15 DM