Ansehnliches Gruselkabinett

■ „Die Cenci“ von Antonin Artaud als deutsche Erstaufführung in Kassel

Antonin Artaud, einer der großen Exzentriker dieses Jahrhunderts, glaubte nicht an das Theater. Jedenfalls nicht an eines, das der Erzeugung einer Illusion hinterherjagt, die ihm niemals wirklich gelingt. Energisch griff Artaud das Theater der Aufklärung und des 19.Jahrhunderts an, das sich damit begnüge, „uns Zugang zum Innenleben von ein paar Hampelmännern zu verschaffen“. Gut gebrüllt, Löwe. Artaud wollte ein Theater, von dem sowohl der Schauspieler als auch der Zuschauer „körperlich etwas hat“. Die Sensibilität des Zuschauers — mit der Szene nicht konfrontiert, sondern von ihr „eingekesselt“ — sei in einem „Wirbelsturm höherer Kräfte“ zu zermalmen und zu hypnotisieren. Insbesondere das Primat der Literatur über die physische Handlung sollte ein Ende haben. Das Theater — eine Operation ohne Narkose. Artaud nannte es „Theater der Grausamkeit“, nachzulesen in seinem berühmten Buch Das Theater und sein Double.

Doch mit allen großen Utopisten teilt Antonin Artaud das Schicksal, daß nicht einmal ein Geringes seiner kühnen Entwürfe je realisiert wurde. So sprachgewaltig diese formuliert sind, so praxisfern sind sie geblieben. Die Cenci, ein Trauerspiel nach Motiven von Shelley und Stendhal, ist das einzige Projekt, das Artaud selbst (1935) auf die Bühne gebracht hat. Sexualmonstren, Massenmörder, Kannibalen etc.pp. sind die natürlichen Helden eines Theaters der Grausamkeit: Da kam dieser (historisch verbürgte) Sexualschurke aus dem Rom des späten 16.Jahrhunderts, der seine Familie quälte und sich dazu verstieg, die eigene Tochter zu schänden, bis er von dieser hingemetzelt wurde. Die arme Beatrice freilich büßte mit dem Tode.

Die blutrünstige Geschichte hat einen politischen Aspekt, der möglicherweise ergiebiger wäre als der psychopathologische: Cenci war reich, und der Vatikan brauchte notorisch Geld. Da lag ein Geschäft auf der Hand: Absolution gegen Subvention. Das Geschäft blühte über Cencis Tod hinaus, denn statt Beatrice Cenci das Recht auf Geschlechtsnotwehr zuzugestehen, wurde sie in einem manipulierten Prozeß abgeurteilt und das beträchtliche Vermögen der Familie zum Wohl der Kirche konfisziert. Amen. Doch den Theatromanen Artaud interessierte es kaum, den Zynismus dieser unheiligen Allianz zu geißeln: Er richtete sein szenisches Folterbesteck gegen den Zuschauer. Zumindest hatte er das vor.

In Kassel, bei der deutschen Erstaufführung der Cenci, kreißt die Maschinerie des Theaters der Grausamkeit — und gebiert einen hübschen kleinen Jokus, kurz, bunt, pfiffig und ganz und gar schmerzlos. Der Regisseur Carlos Trafic ist ungefähr das glatte Gegenteil eines Artaud: kein Schreckensmann, sondern ein liebenswerter Magier des Theaters, dessen Instrumentarium mittlerweile etwas in die Jahre gekommen ist, aber seinen Charme doch nicht ganz eingebüßt hat. Das Publikum sitzt brav vis-à-vis. Die Raumbühne des TIF hat Bernd Knetsch mit bläulichem Pseudo-Marmor und vielen roten Tüchern ausgestattet. Die Renaissance-Kostüme sind nett anzusehen, ebenso die liebevoll ausgedachten Requisitenscherze, die Kothurns, auf denen Frau Cenci sich quält, die Weinkaraffe, die sich anzüglich aus einer phallischen Säule schiebt: In diesem Ambiente wird — mit betontem Augenzwinkern — lustvoll und lustig Theater gemacht. Ein optisch eindrucksvolles Arrangement.

Geradezu rührend sind alle diese Figuren und Lemuren in Carlos' Gruselkabinett, wie sie zucken und sich winden; diese Purpurträger mit blutunterlaufenen Augen und syphilitischen Geschwüren an den Händen, diesen Grafen Cenci (Berthold Korner), feist, zynisch und selbstgefällig, diese schöne arme Beatrice (Maja Nielsen), die sich nach unendlicher Pein und Schmach opfert, indem sie die Hand gegen das väterliche Ungeheuer erhebt... fabelhaft. Grausam? Nein. Komisch? Ja. Mitunter. Eine längst fällige Entdeckung? Kaum.

Wie viele Genies am Rande der Psychopathologie nahm Artaud das Leben — und also das Theater — ernster als die Menschen um ihn herum. Mit großer Gebärde zerschnitt er die Basiskonvention, die seit der klassischen Antike das A und O des abendländischen Theaters ausmacht: Daß das, was auf der Szene geschieht, den Zuschauer nur insofern angeht, als er davon nicht unmittelbar betroffen ist. Jemand wie Carlos Trafic hat das natürlich längst begriffen. Artaud konnte damit nicht leben. Geblieben ist die Gebärde. Die immerhin ist imposant. Martin Krumbholz

Antonin Artaud: Die Cenci. Regie: Carlos Trafic, Ausstattung: Bernd Knetsch. Mit Bertold Korner, Gabriele Schümann, Maja Nielsen u.a., TIF im Staatstheater Kassel. Aufführungen: 19., 24. und 30.5.