Bis nach Hollywood durchsickern

Ausschließen und überwachen in Los Angeles, Teil2. Südlich des Wilshire Boulevard. Crack ist out, gutes Essen und sauberer HipHop angesagt. Belagert von der National- garde, können die Ghetto- bewohner in Ruhe schlafen  ■ Von Brigitte Werneburg, mit Fotos von Brian Cross

No justice, no peace! Fuck the police!“ Die Luft war sofort dick mit den Gesängen der NWA-Rap-Hymne, als am letzten Mittwoch im April die vier Polizisten, die am 3.März 1991 Rodney G. King krankenhausreif geprügelt haben, von einer Jury im weißen Simi Valley — auch als Ruhestandsgemeinde von 2.000 pensionierten Polizisten bekannt — vom Verdacht ungerechtfertigter Brutalität freigesprochen wurden.

Was danach kam, könnte man ein ziemlich schrilles HipHop-Abschiedskonzert für den Chief des Los Angeles Police Department (LPDA), Deryl F. Gates, nennen. „House music“ à la L.A., „Gangster rap“ mit 58 Toten, 2.383 Verletzten, 5.273 geplünderten und niedergebrannten Gebäuden, 14.103 Verhaftungen und einem geschätzten Gesamtschaden von 785 Millionen Dollar. Etwa 11.000 Soldaten der Nationalgarde, Armee und Marine stehen in den Straßen von Los Angeles; zwischen ihnen African-Americans, die T-Shirts mit der Aufschrift „Still no justice“ verkaufen. Solange diese T- Shirts verkauft und getragen werden, gibt es wenig Grund zur Entwarnung. Bis zum folgenden Montag galt für weite Teile von L.A. County nächtliche Ausgangssperre: „Curfew“. Bislang berühmt-berüchtigtes Mittel des LAPD, schwarze und hispanische Jugendliche unter Aufsicht zu stellen. Mike Davis spricht in seinem bitterbösen L.A.-Bestseller City of Quartz von einer „Westbank- Politik“ des LAPD gegen die schwarzen und hispanischen Gemeinden. Jetzt hat Los Angeles seine „Intifada“. — „Black Urban Muzik“ ist ein Lebensbereich, in dem seit langem deutlich wird, was alles schief läuft im „La-La-Land of sunshine and glamour“. HipHop in Los Angeles, im Gegensatz zu HipHop in New York, ist HipHop ohne Clubs. Jedenfalls ohne das, was man einen „Alte-Schule-HipHop-Club“ nennt, mit offenem Mikrofon für jeden, sagt Brian Cross, Fotograf und Autor aus Limerick, Irland. Brian Cross, der die Kolumne Take the Weight in L.A.'s HipHop-Szenezeitschrift 'Urb Magazine‘ schreibt, arbeitet gegenwärtig an einem Buch über Rapper in Los Angeles. Es gibt in Hollywood zwar jede Menge Clubs, und „dance now, die later“ ist durchaus angesagt — Raves zu Techno und Industrial vor allem und weniger HipHop. Aber wenn eine Gruppe junger Schwarzer, womöglich in Sneakers, Jeans und Baseball-Cap, an der Tür eines Clubs auftaucht, heißt es „private party, sorry“.

HipHop im Schlafzimmer

„Im Endeffekt heißt HipHop in L.A., du hängst in den Häusern der Leute rum, trinkst Bier, hörst Musik, und da entsteht auch die Musik — in den Schlafzimmern der Leute. Vor 20, 15 Jahren, als es noch Central Avenue gab, wäre das alles in Clubs, Kaffeehäusern und Hotels abgelaufen, und nicht im Schlafzimmer. Als es noch eine schwarze Infrastruktur in Southcentral L.A. gab.“

HipHop (wie Punk), in seinen Anfängen ohnehin Antwort auf eine Musikindustrie, die vor allem mit „production values“ protzte, ist infolge digitaler Reproduktionstechniken inzwischen auch zur Antwort auf die „Curfew“-Strategie des LAPD geworden. „Curfew“ wird seit Jahren ebenso gegen einzelne Jugendliche wie über bestimmte Nachbarschaften, Parks, Clubs, Straßen verhängt, in denen man zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang nicht anzutreffen sein darf. HipHop, die Gegenöffentlichkeit des Ghettos, hat somit nicht einmal im Ghetto Öffentlichkeit, Versammlungsmöglichkeit. Der physische Bewegungsspielraum schwarzer Jugendlicher in der schon lange verbarrikadierten Stadt geht teilweise gegen Null. Abgeschlossene, kameraüberwachte „Narcotics Enforcement Zones“, die nur noch die Anwohner betreten beziehungsweise befahren dürfen, eine durchschnittlich 19stündige tägliche Luftüberwachung sogenannter „high crime areas“ mit neuesten Hubschraubern der französischen Aerospatiale S.A., die selbst die Luftüberwachung der britischen Armee über Belfast übertrifft, ergänzen neben anderen „drogenkriegsbedingten“ Ausnahmeregelungen die Verhängung von Ausgangssperren. Der Drogenkrieg, der LAPD-Chef Daryl Gates ein immer größeres Budget und immer mehr Einfluß auf politische Entscheidungen in der Stadt verschaffte, war daher schon immer ein eindeutig zweideutiges Unternehmen. Für die Medien wurden leichte Siege in Szene gesetzt in einem Krieg, den man insgeheim verlieren will. All die Macht und Herrlichkeit, wo wären sie ohne Crack? Die Christopher-Kommission, nach dem Rodney-King-Vorfall von Bürgermeister Bradley als Untersuchungskommission gegen das LAPD eingesetzt, kritisierte vor allem die „Belagerungsmentalität“ der Polizei gegenüber der Stadt. Bis 1990 wurden in „Großangriffen“ wie den unter dem Namen „Operation Hammer“ laufenden Drogen- und Gang-Razzien 50.000 Verdächtige festgenommen. Die Zahl schwarzer Jugendlicher beträgt in L.A. rund 100.000.

Aber so sehr sich die Polizei in ihrem — aus eigener Paranoia und, ebenfalls von der Christopher-Kommission festgestelltem, Rassismus geborenen — Bürgerkrieg mit neuester digitaler Sophistication aufrüstet, genauso wird sie mit neuer Technologie geschlagen. Ein Mann, der seine gerade gekaufte Videokamera testen wollte, beobachtete und filmte die LAPD beim Zusammenschlagen von Rodney King.

Offene Mikrofone

Und eine Drum Machine ist eben kein Schlagzeug, auch wenn sie eines sein kann. Auf relativ preiswerten Samplern lassen sich in den neunziger Jahren verschiedene Tonschleifen gesampelter Musik, Drum Beats und anderer Geräusche simultan bearbeiten und auf Disketten speichern: Die Virtual Reality postmoderner Popmusik benötigt kaum mehr realen Raum, acht Quadratmeter Schlafzimmer sind ein ausreichendes Musikstudio. HipHop baut die leicht zirkulierbaren Medien CD und Video in Kommunikationsnetze „von unten“ aus und benutzt sie als diskursiven Raum, der den eingeschränkten Bewegungsspielraum schwarzer Jugendlicher virtuell erweitert. Rap ist die gesprochene Zeitung, deren Traditionslinien in der mündlichen Geschichtsüberlieferung, den Vers- und Gedichterzählungen Afrikas wurzeln. Rap ist heute in L.A. natürlich so etwas wie der fotokopierte Handzettel, das aktuelle Fax. Und wenn man in den vergangenen Wochen in den Gesundheitskostladen „The Good Life“ ging, in dem Donnerstag abends Rap und offenes Mikrofon für jeden angesagt sind, dann war es einfach zu hören, daß der Fall Rodney King enorme Bedeutung hatte. „The Good Life“ ist eine der Verbindungen von Grassroots-Aktivismus und HipHop. Jeder, der meint, daß er MC-Qualitäten hat, kann hier testen, ob er der kommende Master of Ceremony ist. Das Publikum ist Erstlingen gegenüber großzügig, aber nicht unkritisch eingestellt. Überhaupt sieht Rap hier ziemlich anders aus als in MTV. Die „hype lyrics“ von PoetX und MCY müssen ohne sogenannte „prophanities“, also ohne phuck, bitch und ähnliche Flüche auskommen, es wird nicht geraucht, und es gibt keinen Alkohol. „The Good Life“ gehört zu den Läden, die im Zuge des Afro-Zentrismus traditionelle Nahrungsmittel, afrikanische Stoffe, Schmuck und Kunsthandwerk verkaufen. Rap ist hier „edutainment“, eine Kombination von Unterhaltung und Unterrichtung, Rap ist politisch, MalcolmX wird ausgiebig zitiert.

Unter dem Einfluß der Black Muslim ist bewußt leben und gesund essen auch eine Angelegenheit gegen die Drogenkultur geworden. Nachdem die Ganggewalt immer selbstmörderischer wird, und/weil das große Drogengeld im Ghetto gar nicht verdient wird (700 Dollar im Monat, und nicht am Tag, wie in den Medien oft dargestellt wird, verdienen Jugendliche damit, schätzen die Ökonomen Malcolm Klein und Cheryl Maxson von der University of Southern California anhand ihrer Untersuchungen und sagen auch, daß es für Mafia-Strukturen keine Anhaltspunkte gibt), sind Kokain und Crack zunehmend „no no“.

Willkommen im Terrordom

„In den letzten fünf Jahren war im HipHop eine echte Bewegung weg von Crack und Kokain zu beobachten. Kokain ist out. Es wird als weiße Konspiration betrachtet, die schwarze Gemeinde zu zerstören. Auch Crack scheint mehr und mehr zu verschwinden. Trotzdem sind die Probleme verdammt groß, und die Folgen von Crack und Kokain, selbst wenn es völlig verschwinden sollte, werden noch über Jahrzehnte zu spüren sein“, so Brian Cross. Vor allem, da die Jugendarbeitslosigkeit, die heute im Ghetto bei 45Prozent liegt, nicht mit den Drogen verschwinden wird. Zu Beginn der achtziger Jahre, als Crack in die Ghettos eingeführt wurde, war die Arbeitslosenrate für schwarze Jugendliche viermal so hoch wie in den sechziger Jahren.

Im „Good Life“ hat sich auch die Gruppe „The Freestyle Fellowship“ zusammengefunden, deren unabhängig produziertes 18-Spur-Demoband ihnen einen Plattenvertrag mit Island Records brachte. Die Freestyle Fellowship begreifen sich als eine lose Assoziation guter Mikrofon-Leute, deren drum beats einen ziemlich experimentellen funk-jazzigen bis cool-jazzigen Stil pflegen. Nach Aussage der Freestyle Fellowship ist Rap im Moment an einem Punkt angelangt, an dem man zu leicht an einem der gängigen Images kleben bleibt. Es wird unterschätzt, welche Möglichkeiten im Rap stecken. Brian Cross beobachtet, daß „Rap-Musik von der Industrie lange nicht den finanziellen Spielraum bekommt, den Rock'n‘Roll hat. Da kann sich so etwas wie eine Avantgarde entwickeln. Für Rap-Gruppen gibt es keinen vergleichbaren künstlerischen Freiraum. Mit Gruppen wie Public Enemy wird auf der Basis verhandelt: ,Das und das wollen wir, und vier Singles und so lang, und wir brauchen's bis Mai '92.‘ Allerdings ist Rap die einzige Musiksparte, die in einem insgesamt stagnierenden Markt Zuwachsraten hat. Die Musikindustrie wird letztendlich ins ,Good Life‘ kommen. Mich haben schon einige Leute gefragt, sind die dort anti-weiß? Sie sagen natürlich nicht anti-weiß, sondern: gibt es dort unten eine anti-kaukasische Stimmung? Ich meine, das ist die Paranoia hier. Du hast ja jetzt mehrmals erlebt, die sind cool dort, im ,Good Life‘.“ Ob das noch gilt, nachdem Los Angeles brannte, ist unwahrscheinlich. Jetzt, eine halbe Woche lang unter Schock und Curfew, realisierte ganz Los Angeles die Aktualität der Public-Enemy-Verse: „Black to the bone my home is your home, so welcome to the Terrordome.“

Normalerweise findet der Terror in den quasi segregierten Gebieten Inglewood, Watts und Compton

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statt. Gang bangin', drive-by shooting: solange es sich unterhalb des Santa Monica Boulevard abspielt, interessiert das nicht sonderlich. Auch nicht die Polizei. Die große Frage nach den Unruhen ist deshalb auch, wo blieb die Polizei? Ungefähr zwei Dutzend Polizisten der LAPD waren beim Zusammenschlagen von Rodney King zu sehen, aber als es galt, frühzeitig eine Straßenecke in South L.A. unter Kontrolle zu bringen, blieb die Szene leer.

Daryl Gates, der sich aufgrund der Ergebnisse der Christopher- Kommission im Juli 1991 gezwungen sah, seinen Rücktritt bis spätestens Juli 1992 zu erklären, ist der große Versager vom Anfang bis zum bitteren Ende. Viele Leute in den schwarzen und hispanischen Stadtteilen sind erstaunlicherweise über die Präsenz der Nationalgarde froh. Die Wahrheit ist, daß sie zum ersten Mal seit Jahren ruhig schlafen können, weil die Gang-Aktivitäten angesichts massiver militärischer Präsenz nachgelassen haben.

Wir sind die Reporter

Straight outta Compton, so der Titel ihres 89er-Albums, kommen auch NWA (Niggers With Attitude), die den „Gangster style“ mit Polizeisirenen und Schießereien als Hintergrundgeräusch enorm populär machten. Rapper Eazy-E von NWA sieht im „Gangster rap“ Los Angeles' alternative Presse: „Wir erzählen die wirkliche Geschichte, wie es ist, an Orten zu leben wie Compton zum Beispiel. Wir sind die Reporter. Wir sagen den Leuten die Wahrheit. Die Leute, wo wir herkommen, hören so viele Lügen, daß die Wahrheit wie saure Milch stehen bleibt.“ Gleichzeitig geht es Eazy-E, in einem Interview mit der 'L.A. Times‘, „nicht um die Hautfarbe. Es geht um die Farbe des Geldes. Ich liebe dieses Grün.“ Die Aussage ist vielen ziemlich aufgestoßen. Aber für das Ghetto gilt noch mehr als anderswo: ohne Kohle keine Reportagen. KDAY, 24 Stunden täglich, siebenmal die Woche Rap-Musik sendende Radiostation auf dem Crenshaw Boulevard in Watts, mußte vor einem Jahr mangels Geld dichtmachen. „Die Nachrichten, die KDAY brachte“, so Brian Cross, „waren Gang-bezogene Nachrichten und Nachrichten aus der Perspektive der schwarzen Gemeinde. KDAY brachte vielen Rappern den Durchbruch. Bis vor einem Jahr konntest du einen KDAY-Hit haben, auf einem kleinen Label aus Southcentral und auf diese Weise schließlich bis nach Hollywood durchsickern.“ Auch jetzt, während der letzen Tage, war eine Radiostation auf dem Crenshaw Boulevard, KJLH (Kindness, Joy, Love, Happiness), die Steve Wonder gehört, Anlaufstation für die Leute. Sie konnten hier ihren Ärger und ihre Frustration äußern, aber auch notwendige Informationen und Kontakte bekommen. KJLH, seit 25 Jahren in Compton angemeldet, versteht sich als Community Station.

Für die nördlich des Wilshire Boulevard angesiedelte Musikindustrie in Hollywood ist alles südlich Wilshire „off the beat“. 'Rolling Stone Magazine‘ oder 'Spin Magazine‘ und die meisten der Plattenfirmen lehnen es ab, über den Wilshire zu gehen und sich irgend etwas anzusehen. Wenn sich etwas per „Ghetto Distribution“ durchgesetzt hat, können sie ja immer noch zuschlagen. In der Mediensicht über Los Angeles ist alles jenseits Wilshire Gang-Gebiet. Allerdings bestände gerade jetzt die Mögichkeit, die „no go“-Barriere zu durchbrechen und mit dem Gespräch zu beginnen.