KOMMENTAR
: Torschlußpanik

■ Die Schweizer Regierung will die Mitgliedschaft in der EG beantragen

Torschlußpanik Die Schweizer Regierung will die Mitgliedschaft in der EG beantragen

In helvetischen Landen tut sich Epochales. Nachdem die Eidgenossen sich nach unzähligen heroischen Schlachten 1515 bei Marignano im Kampf gegen die Truppen Franz' I. von Frankreich eine blutige Nase geholt hatten, mischten sie sich nicht mehr in fremde Händel ein. Bewaffnete Neutralität hieß fortan die Parole. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde ihr Respekt gezollt. Auf dem Wiener Kongreß 1815 dann gestand man der Schweiz, deren Bürger im übrigen in aller Herren Länder als Söldner — sei es bei der Verteidigung der Bastille oder im Vatikan — hoch geschätzte Dienste leisteten, gar eine „immerwährende“ Neutralität zu. Sich heraushalten hieß nun die politische Maxime. Und die Schweizer lebten wahrlich gut damit. Die „bewaffnete Neutralität“, die notfalls so ganz neutral nicht wahr, ersparte ihnen — so jedenfalls die gängige helvetische Geschichtsinterpretation — die Schrecken von zwei Weltkriegen und die Armut und das Elend der Nachkriegszeit.

Die Neutralität wurde zum vielleicht wichtigsten Ideologem bei der Herausbildung einer Schweizer Identität. Doch brachte sie den Eidgenossen nicht nur Frieden, sondern trieb sie auch in eine selbstgewählte Isolation. Der Beitritt zur UNO oder zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schien mit dem Neutralitätsgebot fast ebenso wenig vereinbar wie ein Beitritt zur nordatlantischen Militärallianz. Auch ein nur partieller Souveränitätsverzicht wäre weithin schnell in den Geruch des Landesverrats geraten. Die Isolation wurde im übrigen jahrzehntelang kaum als solche empfunden. Mit einer gewissen Selbstgefälligkeit sprachen die Schweizer lieber von ihrem „Sonderfall Schweiz“. Und das hieß vor allem besonders unabhängig, besonders frei, besonders demokratisch und — oft vornehm verschwiegen — besonders reich.

Das Ende des Kalten Krieges und die wirtschaftliche Integration Europas scheinen nun diesem Sonderfall den Todesstoß zu versetzen. Was ist eine Neutralität wert, wo die große Konfrontation verschwunden ist? Und weshalb soll sich die Schweiz einem Raum politisch entziehen, in den sie wirtschaftlich längst eingebunden ist, zumal wenn die Nachteile eines Inseldaseins die Vorteile längst überwiegen? Vor sechs Jahren noch haben die Schweizer einen Beitritt zur UNO abgelehnt, am Sonntag stimmten sie nun einem Beitritt zum IWF und der Weltbank zu. Die Regierung in Bern hat die Signale verstanden und noch am Montag angekündigt, sie werde schon bald die EG-Mitgliedschaft des Landes beantragen. Es riecht nach Torschlußpanik. Die Schweizer wollen offenbar noch mit der ersten Welle der früheren EFTA-Staaten Österreich, Schweden und Finnland in den kontinentalen Zug einsteigen, statt mit den Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen auf dem Trittbrett zu fahren. Thomas Schmid