„Wie kommt die Butter aufs Brot?“

Streitgespräch zwischen Ingrid Brandenburg vom Sprecherrat des Bündnis 90 und dem Pressesprecher der IG-Metall Berlin/Brandenburg, Michael Böhm, über Gewerkschaften im Vereinigungsprozeß  ■ MODERATION: WALTER JACOBS

taz: Frau Brandenburg, streiken die westdeutschen Arbeiter und Angestellten auf Kosten des Ostens?

Ingrid Brandenburg: Wir sind voll damit einverstanden, wenn durch einen Streik höhere Gewinne auch den Beschäftigten zugute kommen. Andererseits hat dieser Streik im Öffentlichen Dienst um wenige Zehntelprozente unerhörte Kosten verursacht und wird weiter viel Geld kosten. Für Ostdeutschland bedeutet der ÖTV-Abschluß, daß die öffentlichen Arbeitgeber — wegen der 60-Prozent-Regelung — ihren Arbeitnehmern entsprechend mehr Löhne zahlen müssen. Darin liegt der Knackpunkt: Das Geld fehlt für Investitionen und führt angesichts der knappen Kassen zu weiteren Personaleinsparungen.

Ist das ein Plädoyer gegen automatische Lohnanpassungen im Osten?

Brandenburg: Sehr richtig.

Die Gewerkschaften haben inzwischen für etliche Branchen mit den Arbeitgebern die stufenweise Angleichung der Tariflöhne bis zum Jahr 1994/95 vereinbart. Halten Sie dies für unangemessen?

Brandenburg: Die Zeit für eine forcierte Angleichung der Löhne ist noch nicht reif, weil die meisten ostdeutschen Unternehmen momentan nicht in der Lage sind, diese hohen Personalkosten zu tragen.

Herr Böhm, machen die Lohnforderungen der Gewerkschaften die noch verbliebene ostdeutsche Wirtschaft kaputt?

Michael Böhm: Für die Mehrheit der Arbeitnehmer geht es in dieser Tarifrunde nicht darum, wie sie zum zweiten Jahresurlaub kommen, sondern wie die Butter aufs Brot kommt. Die großen Schwierigkeiten, die die ÖTV mit ihrem Abschluß hat, resultieren aus dieser Situation, denn die Gruppe derjenigen, die sich am unteren Ende der Lohnskala bewegen, ist groß. Man muß sich die Ursachen für die Misere der ostdeutschen Industrie und der öffentlichen Finanzen vergegenwärtigen. Nach der Wirtschafts- und Währungsunion hat sich die westdeutsche Politik gegen eine aktive staatliche Industrie- und Strukturpolitik zur Modernisierung und Sanierung der ostdeutschen Betriebe entschieden. Statt dessen wurde das Geld für die soziale Flankierung des gewaltigen Umbruchs mobilisiert. Die Schaffung von neuen und die Erhaltung von alten Arbeitsplätzen wurden allein der privaten Wirtschaft überlassen. Das Ergebnis dieser Politik liegt jetzt mit einer realen Arbeitslosigkeit zwischen 30 und 40Prozent auf dem Tisch. Wer in dieser Situation sagt, durch Lohnverzicht könne man einen Beitrag zum Aufbau im Osten leisten, der verkennt zwei Tatsachen: Das Geld, auf das die Arbeitnehmer im Westen verzichten, kommt noch lange nicht den Arbeitnehmern im Osten zugute, sondern es landet auf den Konten der Unternehmer. Ob die damit Arbeitsplätze im Osten schaffen oder Finanzpapiere in Honkong kaufen, ist allein deren Entscheidung. Und: Lohnverzicht heißt automatisch Steuerverzicht und öffnet die Tür zu weiteren Schritten in den Schuldenstaat.

So einfach kann man es sich doch nicht machen. Weit über dem Produktivitätszuwachs liegende Lohnsteigerungen treiben Betriebe in die Pleite, erhöhen die Arbeitslosigkeit und die Inflation.

Böhm: Es gibt keinen negativen Zusammenhang zwischen der Lohnkosten- und der Arbeitsplatzentwicklung in der alten Bundesrepublik. In den Jahren 1985 bis 1990 hatten wir in den alten Bundesländern Reallohnzuwächse, und die sind mit zusätzlichen Arbeitsplätzen einhergegangen. Lohnkosten und Lohnstückkosten sind nur ein Faktor unter vielen, der darüber entscheidet, ob Investitionen und Arbeitsplätze realisiert werden. Das eigentliche Problem liegt doch darin, daß seit über zwei Jahren in die meisten ostdeutschen Betriebe praktisch nichts investiert wurde, um neue Produkte zu entwickeln und die Betriebe am Markt wettbewerbsfähig zu machen. Staatliche Zuschüsse erschöpften sich in der Regel in der Gewährung von Liquididätskrediten.

Brandenburg: Das ist im wesentlichen richtig, aber genau darin liegt unser Dilemma. Ein großer Teil der nicht-privatisierten Betriebe kann seine Personalkosten nicht aufbringen. Wir würden es natürlich gerne sehen, wenn die Löhne im Osten denen im Westen schnell angeglichen würden, denn auch bei uns sind die Preise gewaltig gestiegen. Aber es geht nicht so schnell.

Böhm: Der Facharbeiterlohn im Osten liegt bei 1.762 Mark brutto. Wo soll denn da noch etwas abgeknapst werden?

Herr Böhm, Sie fallen hinter die Argumentation des DGB zurück. Der DGB sieht durchaus, daß viele potentiell konkurrenzfähige Betriebe mehr Zeit brauchen, um sich in die Lage zu versetzen, die westlichen Löhne auch erwirtschaften zu können. Deshalb fordert die DGB- Stellvertreterin Engelen-Kefer doch auch direkte Lohnsubventionen für kleinere Betriebe.

Böhm: Der Schlüssel für das Überleben eines Unternehmens ist die Herstellung verkaufsfähiger Produkte. Selbst bei Null-Lohn kann ich Produkte, die niemand haben will, nicht verkaufen. Solange man den Unternehmen nicht die Chance gibt, in Produktivität und Produktentwicklung zu investieren, kann man an der Lohnhöhe so lange fummeln wie man will: dabei kommt kein Produkt heraus, das einer kaufen will. Billiglöhne stellen für den Industriestandort Deutschland überhaupt keine Möglichkeit dar, Konkurrenzfähigkeit herzustellen. Auf welches Niveau sollten wir denn gehen? Auf das tschechische, polnische oder thailändische? Das Lohnniveau in der Tschecheslowakei liegt bei 20Prozent der ostdeutschen Löhne. Notwendig ist die Sanierung der ostdeutschen Betriebe und daß deren Handel mit den traditionellen Partnern im Osten stabilisiert wird.

Frau Brandenburg, Herr Böhm behauptet, bei einer anderen Industrie- und Strukturpolitik könnte die Lage heute wesentlich besser sein und die Angleichung der Verhältnisse wäre in absehbarer Zeit zu erreichen. Glauben Sie das?

Brandenburg: Auch wir wollen keine Beschäftigungstherapie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sondern eine zukunftsträchtige Struktur- und Industriepolitik, die noch nicht einmal in Ansätzen vorhanden ist.

Das Zauberwort „Strukturpolitik“ scheint die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeiten eher zu vernebeln. Seit Mitte der 50er Jahre etwa hat das Ruhrgebiet über 500.000 Arbeitsplätze im Kohle- und Stahlbereich verloren — ein Umstrukturierungsprozeß, der der Region immer noch zehn Prozent Arbeitslosigkeit beschert. Im Revier war nur der Montansektor krank, in Ostdeutschland dagegen sind alle Branchen schwerstkrank. Wie wollen Sie da durch strukturpolitische Instrumente im Osten in einem Jahrzehnt den Anschluß finden?

Brandenburg: Die westdeutsche Industrie hat doch überhaupt kein Interesse, im Osten potentielle Konkurrenten zu stärken. Die haben sich ein paar Filetstücke geschnappt, und wenn der Rest gegen die Mauer gefahren wird, stärkt das doch nur die Absatzchancen der westdeutschen Industrie. Wenn wir es dem Markt überlassen, haben wir im Osten bald für ewig eine industrielle Wüste.

Böhm: Die westdeutschen Unternehmen sitzen auf 670 Milliarden Mark liquiden Mitteln. Sie haben im letzten Jahr in Ostdeutschland 25 Milliarden Mark investiert...

In diesem Jahr werden es zwischen 70 und 90 Milliarden Mark.

Böhm: Vielleicht. Bis zu 53Prozent davon steuert der Staat als Subvention bei. Und wer bringt diese Steuern auf? Über 80Prozent der Transferleistungen werden heute von Arbeitnehmern aufgebracht.

Diese Zahlen sind richtig, aber gleichwohl ist die Finanzierung der Einheit ohne einen Rückgriff auf die Masseneinkommen nicht zu schaffen. 70Prozent der Transferleistungen — in diesem Jahr schätzungsweise über 180 Milliarden Mark — sind durch Einnahmen nicht gedeckt. Da können Sie die Belastungen der Reichen in diesem Lande verdoppeln oder verdreifachen — das reicht hinten und vorne nicht.

Böhm: Bert Brecht hat recht: „Wenn man das Brot der Reichen einsammelt, werden die Armen nicht satt.“ Die Arbeitnehmer haben ja auch bisher schon den größten Teil getragen. Sie sind bereit, in Zukunft zu teilen, aber sie sind auch sauer, daß diejenigen, die es ohnehin dicke haben in diesem Land, sich dumm und dämlich verdienen und heute besser dastehen als vor der Vereinigung — gleichzeitig aber predigen sie den Arbeitnehmern Verzicht. Es geht um solidarische Finanzierung und nicht um einseitigen Lohnverzicht.

Brandenburg: Da haben wir überhaupt keinen Dissens. Die Gewinne, die von westdeutschen Unternehmen in den neuen Bundesländern erzielt werden, müßten ab einer gewissen Höhe über eine Sondersteuer abgeschöpft und, unter öffentlicher Kontrolle, über einen Fonds gezielt in sanierungsfähige Betriebe reinvestiert werden.

Wie hoch sind denn die von Ihnen genannten Gewinne?

Brandenburg: Ich habe darüber keine genauen Zahlen.

Wenn man so verführe, bestünde die Gefahr, potentielle private Investoren zu verprellen. Etwa 900 Milliarden Mark an Investitionskapital sind nach Ansicht des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) nötig, um in den neuen Ländern 2,5 Millionen Arbeitsplätze neu zu schaffen und weitere vier Millionen alte Arbeitsplätze konkurrenzfähig zu halten. Im günstigsten Fall werde es bis zum Jahre 2000 gelingen, im Osten ein halb so großes Bruttosozialprodukt wie im Westen zu erwirtschaften. Realisiert werden könnte das aber nur, wenn bis zum Jahr 2000 in den neuen Ländern ein Wirtschaftswachstum von 7,5Prozent jährlich erreicht werden könnte. Diese Zahl wurde nicht einmal während der 50er Jahre im Westen erreicht.

Böhm: Und was beweist uns diese Zahl?

Sie relativiert alle von Gewerkschaftern und Politikern ausposaunten Patentrezepte. Langfristig, prognostiziert die gewerkschaftseigene Hans-Böckler-Stiftung, wird es in den neuen Ländern höchstens zwischen 4,5 und 5,5 Millionen Arbeitsplätze geben. Unter DDR-Verhältnissen gab es rund 9,2 Millionen.

Böhm: Die Zahl beweist uns: Es dauert länger, je weniger wir jetzt in die Sanierung investieren.

Brandenburg: Ich habe eine Untersuchung über die Metallindustrie in Berlin und Brandenburg durchgeführt. Bezogen auf die Zahl der Arbeitnehmer im Jahr 1990, müssen wir Ende 1992 mit einer Arbeitslosenquote zwischen 15 und maximal 20Prozent rechnen. In einigen Regionen haben wir jetzt schon eine Arbeitslosigkeit von 100Prozent. Dem kann man nur mit einer staatlichen Industrie- und Sanierungspolitik begegnen.

Nach Angaben Biedenkopfs wird es im Westen in den kommenden Jahren eher um die Umverteilung des Einkommensverlustes statt um die Verteilung des Zuwachses gehen.

Böhm: Professor Biedenkopf war schon immer brillant bei der Erstellung von Analysen, aber unbeholfen, wenn es an deren Umsetzung ging. Richtig ist, daß inzwischen selbst die Treuhand bemerkt, welchen Scherbenhaufen sie mit der einseitigen Privatisierungspolitik hinterlassen hat. In der Treuhand wird jetzt über Sanierungsmodelle diskutiert, die noch vor einem Jahr als pures Teufelszeug galten. Sie will beispielsweise vier Schleifmaschinenhersteller der neuen Bundesländer zu einem „Schleifring“ zusammenfassen. Der Treuhandvizechef brüstet sich damit, daß dieser „Schleifring“ zu Europas größtem Schleifmaschinenanbieter würde. Vor einem Jahr hätte niemand auch nur gewagt zu sagen, daß die Treuhand unter eigener Regie einen Industriezweig saniert und marktfähig macht. Das ganze kommt zwei Jahre zu spät.

Die politisch verordnete Privatisierungsorgie der Treuhand ist sicher kritikwürdig. Dennoch bleibt die Tatsache, daß überlebensfähige Betriebe Zeit brauchen, um marktfähig zu werden.

Böhm: Kein Gewerkschafter hat seinen ostdeutschen Kollegen erzählt: „In fünf Jahren lebt ihr in blühenden Ländern.“ Das waren Bundesminister und Bundeskanzler.

Aber jetzt erzählen die westdeutschen Gewerkschafter ihren ostdeutschen Kollegen: „1994 könnt ihr den Westlohn verdienen.“ Sind das nicht Luftschlösser, Illusionen, die in vielen Fällen direkt in die Katastrophe führen, weil die Betriebe die Löhne nicht erwirtschaften können?

Böhm: Kein Unternehmen ohne marktfähige Produkte wird das Jahr 1995 erleben.

Mit einer von der Produktivität losgelösten Lohnpolitik treiben die Gewerkschaften die Betriebe in die Pleite. Da müssen sie Lohnverzichte einräumen, was dann ja auch passiert. Die Betriebe verlassen die Unternehmerverbände und schließen mit Unterstützung der Beschäftigten eigene Tarifverträge.

Brandenburg: Genau. Ich bin in solchen Betrieben gewesen. Da haben die Arbeitnehmer die Geschäftsführung aufgefordert, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten, sich nicht an die Tarifabkommen zu halten und statt dessen jede mögliche Mark in die Investitionen zu stecken.

Böhm: Es gibt immer wieder Menschen, die aus Existenzangst bereit sind, ihr letztes Hemd mit in den Betrieb zu geben. Nur: Alle Erfahrungen, auch aus den alten Bundesländern, zeigen, daß Lohnverzicht noch nie einen Arbeitsplatz gerettet hat.

Herr Böhm, warum vereinbaren Sie in ihren Tarifverträgen keine zeitlich begrenzte Öffnungsklausel für finanzschwache Unternehmen?

Böhm: Sie reden am Kern vorbei. Es gibt eine Befragung des Münchener Ifo-Instituts unter den Unternehmensleitungen der neuen Bundesländer nach den größten Schwierigkeiten bei der Weiterführung der Unternehmen.

80Prozent sagen, uns fehlt der Zugang zum Markt, 70Prozent sagen, ungeklärte Eigentumsverhältnisse verhindern Investitionen. Weniger als 30Prozent geben an, daß die Höhe der Löhne ein Hemmnis bei der Fortführung des Unternehmens sei. 70Prozent sehen also in der Lohnhöhe kein Problem. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.

Brandenburg: Es wird anarchische Methoden des Lohnverzichts und Sonderregelungen ebenso wie die üblichen Tarifvereinbarungen geben. Neben den privatisierten Betrieben muß es aber auch Betrieben der Treuhand, die noch nicht konkurrenzfähig sind, möglich sein, über staatliche Fonds Investitionsmittel zur Sanierung zu mobilisieren. Wie lange die Betriebe dann in staatlicher Hand bleiben, kann man jetzt nicht abschätzen, aber es gibt ja eine Reihe europäischer Länder, wo das gut funktioniert hat. Wer in dieser Situation glaubt, auf staatliche Betriebe in den neuen Ländern verzichten zu können, der spricht das Todesurteil aus für einen Großteil der industriellen Basis im Osten. Wirtschaftliche, soziale und politische Ödnis wären die Folge.