US-Justiz riskiert Hinrichtung eines Unschuldigen

Nach zehn Jahren Todeszelle fehlt plötzlich die Zeit, Zweifel an der Unschuld von Roger Keith Coleman auszuräumen Er wurde verurteilt wegen Vergewaltigung und Mord/ Coleman soll Donnerstag früh hingerichtet werden  ■ Aus Washington M. Sprengel

Nur vier Tage dauerte 1982 das Verfahren gegen Roger Keith Coleman. Ganze drei Stunden brauchten die Geschworenen, um ihn zum Tode zu verurteilen. Erst danach konnten sich die Gemüter in dem 1.300-Seelen-Dorf Grundy im Südwesten von Virginia wieder beruhigen. Ein Jahr nach dem brutalen Mord an Wanda McCoy schien mit ihrem Schwager Roger Coleman jener Mann seiner gerechten Strafe zugeführt worden zu sein, der sie vergewaltigt und ihr dann die Kehle durchgeschnitten hatte.

Obwohl aufgrund neuen Beweismaterials erhebliche Zweifel an Colemans Schuld bestehen, soll der 33jährige Donnerstag früh für diese Tat im elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Virginias Gouverneur Douglas Wilder lehnte am Montag ein Gnadengesuch ab. Er glaubt nicht an Colemans Unschuld. Als einzige Chance bleibt nur noch ein richterlicher Aufschub, der den Anwälten Colemans mehr Zeit für ihre fieberhaften Bemühungen geben würde, den Fall neu aufzurollen.

Doch sowohl unter Bundesrichtern als auch im Supreme Court beißen Colemans Anwälte auf Granit. Berufungen von Strafgefangenen, die vor allem in den 50er und 60er Jahren vom Obersten Gerichtshof unter Earl Warren als Kontrollmechanismus für die Urteile der staatlichen Gerichte ausgebaut wurden, sind in der Logik von Warrens konservativen Erben nur hinderlich beim Strafvollzug. Der amtierende Chief Justice William Rehnquist nannte sie schon vor mehr als zehn Jahren „obskure Nettigkeiten“ des Verfassungsrechts, die die amerikanische Justiz unnötig überlasten.

1976, als die Obersten Richter die Todesstrafe in den USA wieder legalisierten, warnten sie gleichzeitig davor, daß der Tod die „unwiderruflichste Strafe“ sei. Sie sprachen von der Notwendigkeit, „verläßlich zu bestimmen“, daß der Tod die angemessene Bestrafung sei. Durchschnittlich acht Jahre vergehen heute zwischen Verurteilung und Hinrichtung eines Todeskandidaten. Zu viel, findet Rehnquist.

Colemans Bitte um Wiederaufnahme seines Verfahrens war bereits im letzten Jahr von den obersten Gesetzeshütern abgewiesen worden. Nicht wegen inhaltlicher Bedenken, sondern aus dem banalen Grund, daß einer seiner Anwälte die Frist zur Vorlage entsprechender Papiere um einen Tag versäumt hatte. Mit der Frage, wie überzeugend die neu vorgelegten Beweise seien, beschäftigten sich die Richter erst gar nicht. Und selbst wenn die Entscheidung des Bundesrichters aufgehoben werden sollte, der noch in der vergangenen Woche urteilte, das neue Beweismaterial sei „irrelevant“, wäre Coleman damit noch lange nicht gerettet.

Keine Revision trotz Unschuldsbeweis

Denn der Supreme Court könnte sich immer noch auf folgenden Standpunkt stellen: Das Urteil eines staatlichen Gerichts kann selbst dann nicht von einer höheren Instanz revidiert werden, wenn die Unschuld eines Angeklagten nachträglich bewiesen wurde. Genau so entschied nämlich ein Gericht im Fall von Leonel Herrera, der in Texas in der Todeszelle sitzt.

Roger Coleman war nach dem Mord seiner Schwägerin Wanda schnell unter den Hauptverdächtigen. Von 1977 bis 1979 hatte er wegen versuchter Vergewaltigung eingesessen, und Wandas Mann hatte ihn als einen jener drei Männer genannt, die seine Frau ins Haus lassen würde. Ein Bekannter Wandas mußte nach der Theorie der Polizei den Mord begangen haben, weil zunächst keine Spuren gewaltsamen Eindringens festgestellt werden konnten. „Von dem Moment, in dem McCoys Leiche gefunden wurde, war die Untersuchung des Mordes weniger eine Ermittlung, wer dafür verantwortlich war, als eine Anstrengung Beweise zur Verurteilung von Roger Coleman zu finden“, schrieb John Tucker in der 'New Republic‘.

Die Aussage eines Arbeitskollegen, die dem Bergarbeiter ein nahezu wasserdichtes Alibi für die Tatzeit verschaffte, wurde von der Staatsanwaltschaft erfolgreich angezweifelt. Damit waren rund 30 Minuten gewonnen, in denen Coleman durch einen schlammigen Bach gewatet sein sowie seine Schwägerin zweimal vergewaltigt und schließlich getötet haben soll.

Das Urteil gegen ihn basierte ausschließlich auf Indizienbeweisen: Schamhaaren, Blut- und Samenspuren, die seine sein können, aber nicht müssen. Mittlerweile neu aufgetanes Material deutet auf einen völlig anderen Tathergang hin. Einbruchsspuren an der Eingangstür scheinen die Theorie von dem Bekannten zu widerlegen und Laboruntersuchungen des gefundenen Samens sogar auf zwei Täter hinzudeuten. John McCloskey, ein bundesweit anerkannter Ermittler, ist nach mehreren Interviews in Grundy überzeugt, daß der Sohn einer Nachbarsfamilie die Tat begangen hat. Eine Frau, die aussagte, der Verdächtige habe ihr gegenüber die Tat gestanden, kam auf mysteriöse Weise um.

Opfer unzureichender Verteidigung

Coleman ist wie die meisten seiner Leidensgenossen, die in der Todeszelle landen, Opfer einer unzureichenden Verteidigung, die Entlastungsmaterial übersehen und vermeintliches Belastungsmaterial nicht entkräftet hat. Sein Pfichtverteidiger hatte sein Juraexamen gerade zwei Jahre hinter sich und erst einen Mordfall bearbeitet. „Nur eine Handvoll der am schlechtesten Vertretenen, der Ärmsten, der Zurückgebliebensten und der Unglücklichsten werden zum Tode verurteilt“, meint Verteidiger David Bruck, der bundesweit versucht gutzumachen, was seine Kollegen versäumt haben.

Die von den Obersten Richtern in Washington betriebene Beschneidung der Berufungen für TodeskandidatInnen wird ihm diese Rettungsversuche künftig nahezu unmöglich machen. Coleman ist also keineswegs der erste und letzte, der vielleicht unschuldig hingerichtet wird. Nachdem er zehn Jahre in seiner Todeszelle gewartet hat, scheint keine Zeit mehr, den letzten Zweifel an seiner Unschuld auszuräumen. Plötzlich muß ebenso hastig enschieden werden wie bei seiner Verurteilung.