„Ein ruhiger, angenehmer Tod“

In den amerikanischen Todeszellen, wo Verurteilte auf ihre Hinrichtung warten, verschwinden langsam ihre menschlichen Eigenschaften, Würde und Mündigkeit: Auf dem elektrischen Stuhl landet nach langem Warten ein infantiles Wesen  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Es war, wie so häufig, alles zum Wohle des Menschen gedacht. Als die Edison-Elektrizitätsgesellschaft Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Wirkung von Stromschlägen öffentlich an Tieren vorführte, wollte sie vor der verheerenden Wirkung auf Menschen warnen — und dem Konkurrenten Westinghouse das Geschäft mit dem Wechselstrom verleiden, mit dessen Entwicklung dieser auf den Markt gekommen war.

Möglich, daß es gerade diese Demonstrationen humanitären Geschäftssinns waren, die die Abgeordneten des Bundesstaates New York erst auf die Idee brachten, bei Hinrichtungen den Galgen durch den — in ihren Augen — moderneren elektrischen Stuhl zu ersetzen. Am 6. August 1890 wurde diese Methode zum ersten Mal „erfolgreich“ angewendet. Im Auburn State Prison in New York richtete man einen Delinquenten auf dem elektrischen Stuhl hin, den wegen Mordes zum Tode verurteilte William Kemmle. Die Lektüre der Details erspart man sich besser. Dokumentiert ist, daß der Staatsanwalt, der vehement das Todesurteil für Kemmler gefordert hatte, beim Anblick des von Stromstößen deformierten Körpers und dem Geruch verbrannten Fleisches in Ohnmacht fiel.

Seitdem haben sich Politiker und Strafvollzugsbeamte in den USA immer wieder darüber den Kopf zerbrochen, wie Exekutionen schneller und — so der offizielle Jargon — für das Opfer „humaner“ durchgeführt werden können. Anstelle des elektrischen Stuhls führten einige Bundesstaaten in den zwanziger Jahren deshalb eine weitere Neuerung, die Gaskammer, ein. Auf diese Weise wurde zuletzt am 21. April 1992 Robert Alton Harris in Kalifornien hingerichtet.

Noch Ende der siebziger Jahre bediente man sich ausgiebig des Wissens und der Hilfe von Ärzten, um neue Hinrichtungsmethoden zu entwickeln. Nach langen Forschungsarbeiten wurde schließlich die Injektion einer tödlichen Kombination aus Muskel-und Herzlähmungsmitteln von den medizinischen Fachleuten präsentiert.

Oklahoma und Texas waren 1977 die ersten Bundesstaaten, die zu dieser Form staatlichen Tötens übergingen — und der in Texas zuständige Arzt zeigte sich angesichts der neuen Methode fast euphorisch: „Der Mann wird auf einer fahrbaren Bahre festgeschnallt. Wenn er will, geben wir ihm vorab ein Schlafmittel — eine fette Dosis Valium. Man muß sich ja keine Sorgen mehr machen, daß er abhängig wird. Dann werden drei tödliche Injektionen verabreicht. Zuerst eine Überdosis Sodium Thiopental — ein Mittel, das die Anästhesisten täglich in der Chirurgie gebrauchen. Die zweite Injektion enthält ein Mittel, das die Muskeln lähmt — und die dritte eine Überdosis Potassium Chloride, das das Herz zum Stillstand bringt. Sonst schlägt das noch für zwanzig Minuten. Das wär's — der Mann ist tot. Keine Verbrennungen, kein Urinaustritt, keine Fäkalien wie bei Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl. Wenn ich je einen ruhigen, angenehmen Tod gesehen habe, dann so.“

Roger Coleman, angeklagt wegen Vergewaltigung und Mord (siehe Bericht oben), wird diese Form angewandter Humanität verwehrt bleiben. In Virginia werden Todesurteile weiterhin auf dem elektrischen Stuhl vollstreckt. Vor einigen Tagen hat man ihn aus dem Todestrakt in die unmittelbare Nähe des Hinrichtungsraumes verlegt. Das ist der erste Schritt des minutiös geplanten Ablaufs einer Exekution, der zehn Jahre Haft im Todestrakt vorausgegangen sind.

Vier, vielleicht sechs Quadratmeter, eine Stahlpritsche, ein Waschbecken — und die Entscheidungsfreiheit, ob man mit dem Kopf an der Gittertür schläft, an der nachts die Wärter vorbeischleichen, oder eine Armlänge neben der Kloschüssel. Drei- oder viermal die Woche Duschen, Hofgang je nach Toleranz des Gefängnisleiters zwischen dreißig Minuten oder zwei Stunden am Tag meist in eigens abgetrennten Käfigen. Anwalt oder Familienangehörigen, wenn die sich überhaupt noch sehen lassen, werden Verurteilte in Handschellen und Fußfesseln vorgeführt. Was immer der Strafvollzug in den letzten Jahrzehnten an zaghaften Rehabilitierungsversuchen hervorgebracht hat, existiert für keinen von ihnen. Schließlich sind sie keine normalen Gefangenen, sondern zum Tode Verurteilte — und damit qua definitionem nicht mehr rehabilitationsfähig.

Als „Living Death“ hat ein zum Tode Verurteilter in Alabama den Alltag in den Todestrakten bezeichnet. Und nachdem die Zahl der Vollstreckungen immer schneller steigt, ist das Warten auf den Ausgang des Berufungsverfahrens noch grausamer geworden: In den großen Todestrakten wie in Texas oder Florida müssen die Insassen inzwischen im Abstand weniger Wochen mitansehen, wie ein Mithäftling nach dem anderen zur Hinrichtung abgeführt wird.

Je länger das Berufungsverfahren dauert, desto schwieriger wird der Kontakt mit der Familie, die diese Belastung nicht mehr aushält. Viele sind nur noch durch ihren Anwalt wie durch eine letzte Nabelschnur mit der Außenwelt verbunden. Was in der Gesellschaft vor sich geht, der sie einst angehörten, erleben sie nur noch am Fernseher: zum Beispiel die Nachricht, daß inzwischen fast achtzig Prozent der US-Amerikaner die Todesstrafe befürworten. „Mir ist schon klar, was die da draußen von mir denken“, erklärte einmal ein Todestrakt-Insasse in Alabama. „Ich bin für die Ungeziefer, das man austritt.“

US-Soziologen nennen das Warten auf die Hinrichtung „character assassination“. Bevor tatsächlich das Todesurteil vollstreckt wird, läßt man die menschlichen Eigenschaften des Delinquenten „verschwinden“. Im öffentlichen Gedächtnis bleibt allenfalls ein Artikel in der lokalen Presse über das Strafverfahren mitsamt detaillierter Schilderung des zur Last gelegten Mordes und des Todesurteils.

Danach verschwinden die meisten Verurteilten in den meist abgelegenen Todestrakten und werden zu Wesen ohne Gesicht und Stimme — vor allem aber ohne Handlungsmöglichkeiten. Wer über zehn Jahre mitansehen muß, wie andere über das eigene Leben entscheiden, fühlt sich am Ende jeder Würde und Mündigkeit beraubt — ein Prozeß, der in der Hinrichtung einen perversen Höhepunkt findet.

„Sie hatten ihm nicht nur den Kopf rasiert, sondern auch noch Windeln angelegt“, beschrieb 1984 der Gefängnispfarrer Joe Ingle die Vorbereitung zur Hinrichtung von Timothy Baldwin, verurteilt wegen Mord, auf dem elektrischen Stuhl in Louisiana. „Um ihn umzubringen, verwandelte ihn der Staat in ein infantiles Wesen — glatzköpfig und gewickelt, fertig, um weggeworfen zu werden.“

Der amerikanische Anthropologe Colin Turnbull, selbst erklärter Gegner der Todesstrafe, beschreibt dies als eine Art umgekehrtes Initiationsritual. „Der Verurteilte kommt als erwachsener Mensch im Todestrakt an und wird Schritt für Schritt seiner Mündigkeit beraubt — bis zur letzten Stufe: dem Tod.“