Er denkt, und sie kocht

■ Durch amerikanische Gewässer: Pirsig ist aufs Segelboot umgestiegen

Beweglichkeit ist ein wichtiges Element der US-amerikanischen Kultur, dementsprechend ist die Reise ein Topos ihrer Literatur: Die geographische Reise, um das unermeßlich große Land zu erleben, ist zugleich eine psychologische Reise, um das eigene Ich zu erfahren. In Klassikern der Beat-Generation wie Jack Kerouacs Unterwegs (1957) und Richard Brautigans Forellenfischen in Amerika (1966) werden zwei unbekannte Größen, das Land und das Ich, entdeckt und erschlossen. Mit Easy Rider (1969) machte Hollywood die Reise zum Ziel der Blumenkinder und die reisenden Aussteiger zu Helden — das Motorrad machte es zum Artefakt einer alternativen Pop-Kultur, die sich gerade den östlichen Philosophien zuwandte. Auf dieser Mischung aus Motorradfieber und Zen-Buddhismus gründete der Erfolg von Robert M. Pirsigs Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten, das Mitte der siebziger Jahre zum Kultbuch aufstieg. Erzählung und Essay, Laotse und Self-help, Vater-Sohn-Beziehung und Technik-Verdrossenheit kombinierte Pirsig zu einem langen Roman, dessen meditierender Held Phaidros unentwegt die Frage „Was ist Qualität“ stellte und genauso oft beantwortete — also nie endgültig.

Die Frage scheint Phaidros nie mehr aus dem Sinn gegangen zu sein, denn jetzt, siebzehn Jahre später, ist er wieder da, um seine neuen Antworten bekanntzumachen: Lila oder Ein Versuch über Moral ist Pirsigs zweiter literarischer Versuch — ein Kultbuch wird es diesmal nicht werden. Denn was die Neunziger auch immer werden — eine Segelbootpartie wohl kaum.

Phaidros hat das Motorrad gegen ein Boot eingetauscht und segelt nun die Kanäle an der Ostküste entlang von Norden nach Süden. Diese Kanäle sind Überbleibsel der Vergangenheit, sie stellen ein Stück amerikanischer Geschichte dar, waren sie doch vor der Eisenbahn die wichtigste Verbindung zwischen Siedlungen und Orten. „Auf dem Wasserweg Amerika zu durchqueren war wie eine Reise zurück in die Zeit.“ In einer Bar lernt Phaidros eines Abends eine Frau namens Lila kennen, die er zuerst ins Bett und dann auf Reisen mitnimmt und vor der ihn ein Freund mit der Frage warnt: „Hat Lila Qualität?“ Diese Frage beschäftigt Phaidros natürlich, und nachdem er die Ware begutachtet hat, kommt er zu dem Schluß: „Biologisch ja, gesellschaftlich nein. Die evolutionäre Moral spaltete das ganze Problem wie eine Wassermelone. Da die biologischen und die sozialen Strukturen fast nichts miteinander zu tun haben, hat Lila zugleich Qualität und hat sie nicht.“ Wie gesagt, Qualität war Phaidros' Thema schon, als er noch Motorrad fuhr — im Segelboot nun ist der Gegenstand seiner Überlegungen eine Frau, und die hat „nur“ biologische Qualität. „Wenn Phaidros sagte, Lila habe Qualität, sagte er damit, daß Sex Qualität habe.“

Entsprechend einer alten Tradition steht der Mann für das Geistige, die Frau für das Körperliche. Der einsame Mann, der sich zum Höheren berufen fühlt, sucht — und findet — in der Frau eine stumme und duldende Gefährtin. So bleibt die Titelheldin kontur- und charakterlos: Er denkt, sie kocht. „Ich kann kochen und dir deine Sachen instand halten und mit dir schlafen. Und wenn du genug von mir hast, sagst du einfach good bye und bist mich los“, bietet sich Lila an. Aber der segelnde Philosoph, für den Qualität und Moral identisch sind, vergibt die Stelle an seiner Seite nicht so leicht: „Ich dachte, ich könnte dich fragen, wie deine Einstellung zu bestimmten Dingen ist. Was deine Wertvorstellungen sind und wie du zu ihnen gekommen bist. Ich würde einfach nur Fragen stellen und mir Notizen machen.“ Denn eigentlich braucht er ein Beobachtungsobjekt: „Was eine Person zusammenhält, ist ein Ensemble von dem, was man mag und was man nicht mag. Und was eine Gesellschaft zusammenhält, ist ein Ensemble von dem, was sie mag und nicht mag.“ Von ähnlichem Tiefsinn zeugen auch andere Überlegungen zu Themen wie Indianerkultur und Anthropologie, Technologie und Forschung, Soziologie und Wirtschaft, Personenkult und Tiefenpsychologie — kaum etwas, was nicht angesprochen würde. Dabei kommt Pirsig ohne Bildung aus, seine Überlegungen werden nicht kulturell gebrochen. Die seitenlangen Gedankengänge münden in aphoristische Schlußfolgerungen, die jeder Stringenz entbehren — Pseudophilosophie, die als Reflexion verkauft wird. Dafür drei Beispiele: „Indianische Werte haben ihre Berechtigung in einer indianischen Lebensweise, aber sie funktionieren nicht so gut in einer komplexen technologischen Gesellschaft“; oder: „Das ganze Leben ist eine Entwicklung statistischer Qualitätsstrukturen zu einer dynamischen Qualität“; oder noch: „Wenn man frischen Tee trinken will, muß man den alten Tee, der noch in der Tasse ist, loswerden, sonst fließt die Tasse über und richtet eine Überschwemmung an. Ein Kopf ist wie diese Tasse. Er hat eine begrenzte Aufnahmefähigkeit, und wenn man etwas über die Welt erfahren will, muß man ihn leer halten, um solche Erfahrungen machen zu können.“

Belanglose Redundanz ist das Merkmal dieses witzlosen Buches, das auch an narrativer Auszehrung leidet. So dürftig ist die Erzählung, daß auch das Auftreten Robert Redfords im zweiten Kapitel sie nicht mehr retten kann. Schließlich wird die Pseudophilosophie zu Pseudolinguistik: „Gut ist ein Substantiv. Das war das, nach dem Phaidros gesucht hatte. Gut nicht als Adjektiv, sondern als Substantiv — das ist alles, was die Metaphysik der Qualität sagen will.“ Ob Substantiv oder Adjektiv, ob Gut oder gut — dieses Buch ist weder noch. Stefana Sabin

Robert M. Pirsig: Lila oder Ein Versuch über Moral. Roman. S. Fischer Verlag. Aus dem Amerikanischen von Hans Heinrich Wellmann. Geb., 460Seiten, 39,80DM.