Ein nicht ganz falscher Verdacht

Eine Theorie sucht sich Gesellschaft  ■ Von Joachim Güntner

Mancherorts wird noch gerätselt, ob Francis Fukuyama auf ermäßigtem Anspruchsniveau vielleicht doch recht behalte. Demnach bescherte uns der Sieg des Liberalismus über die totalitären Systeme zwar kein „Ende der Geschichte“ — wie es der hohe Beamte im amerikanischen State Department vor zwei Jahren mit einem Zeitschriftenaufsatz gleichen Titels suggeriert hatte. Immerhin aber ein Ende des Weltanschauungsstreits.

Es wäre gar zu schön gewesen. Mittlerweile hat Fukuyama seinen Essay zum Buch aufgeblasen, Besprechungen füllen die Rezensionsspalten der frühjährlichen Literaturbeilagen, auch der 'Spiegel‘ hat seine Schuldigkeit getan und sich, glaubend, er habe da Wunder was für ein Thema beim Wickel, der Sache angenommen. Aber Pustekuchen. Hat sich was mit „Ende der Geschichte“. Und um das Ende der Ideologien ist es kaum besser bestellt.

Fraglos ist der Sozialismus als Gegner weggebrochen. Doch siehe da: Die liberalismuskritische Hydra hat noch andere Köpfe. Einen gar, der sich am Busen des Liberalismus selber nährt, inmitten der mit stars and stripes beflaggten Bastion der ach so freien Welt. Deren Defizite macht die frischgebackene Opposition in ihrem Gegen- und Leitbegriff namhaft. Das lateinische communis stand Pate beim Kunstwort Kommunitarismus: Eine buntgewürfelte, nicht ins Rechts/Links-Schema zu pressende Schar aus Soziologen, Philosophen und Politikwissenschaftlern verklagt den Liberalismus auf Wiederherstellung der Gemeinschaft, die sein exzessiver Individualismus zerstört habe.

Der Ruf nach ideellem Sozialkitt erhebt sich vor dem Hintergrund zunehmender Vereinzelung. Schon längst nicht mehr wird der Zuwachs an individuellem Freiraum ausschließlich als Modernitätsgewinn verbucht. Alasdair MacIntyre sieht die liberale, von dem „reichen Ästheten, dem Manager und dem Therapeuten“ beherrschte Kultur auf dem absteigenden Ast. Gut aristotelisch empfiehlt er eine Rückkehr zur Tugend; sein Buch über den Verlust derselben läutete 1981 die komunitaristische Dekade ein. Charles Taylor, ein kanadischer Philosoph, will die bürgerlichen Freiheitsrechte durch die „natürliche Zugehörigkeitspflicht“ ergänzt wissen, da der Einzelne erst im Verbund zu „positiver“ Freiheit fähig werde — gestützt durch den Nachbarn, geschützt von den Institutionen, geleitet von den Werten der Tradition. Und Michael Walzer, derzeit das Aushängeschild politischen Denkens in Amerika, kauft der Gesellschaftskritik den universalistischen Schneid ab: Was sich nicht auf immanentem Wege — dem „Pfad der Interpretation“ — aus vorfindlichen Normen gewinnen lasse, dürfe der Gesellschaft auch nicht als moralischer Standard vorgehalten werden.

Parasiten des Gemeinwohls

Ihnen zur Seite räsonnieren Juristen über das Eindringen des Rechts in sämtliche Lebensbereiche und die zunehmende Prozessierungsbereitschaft der Bürger (man denke an die Sprößlinge, die heute ihren Papa auf Finanzierung des Studiums verklagen können); die Psychologen nehmen Abschied von der bauchnabelfixierten Selbstverwirklichung, stellen statt dessen die identitätsstiftende Bedeutung stabiler familiärer Milieus heraus; die Politologen werden republikanisch und fordern Bürgerengagement in einer Strong Democracy, so der Titel eines Buches von Benjamin Barber. Den Ökonomen verhilft Amitai Etzioni, einst glückloser Berater von Präsident Jimmy Carter, per Bestseller zur Einsicht in die „moralische Dimension“ des Wirtschaftens, wobei sich das Lieblingskind des klassischen und neoklassischen Liberalismus, der profitorientierte Eigennutz, als Parasit des Gemeinwohls entpuppt. Die Soziologen schließlich, angeführt von Robert N. Bellah, finden Geschmack an der heilen puritanischen Gemeinde und berufen sich auf John Winthrop (1588-1649), seinerzeit einer der ersten Puritaner in der Neuen Welt. Scheu vor pastoraler Diktion kennt man im Land der Fernsehprediger nicht, weshalb sich als Devise zitiert findet:

„Wir müssen uns aneinander erfreuen, müssen die Umstände der anderen zu unseren eigenen machen, wollen sowohl die Freude als auch die Trauer, sowohl die Arbeit als auch das Leid miteinander teilen und uns immer unsere Gemeinschaft vor Augen halten, die aus Gliedern eines einzigen Körpers besteht.“

Bei Licht besehen handelt es sich beim Kommunitarismus um die zweite ideologische Reaktionsbildung auf die technologische Moderne, auf die Überfluß- und Massenkultur der westlichen Nachkriegsgesellschaften. Die erste, die Postmoderne, dies Kind der sechziger und siebziger Jahre, hatte die Individualisierung noch fröhlich als Pluralisierung begrüßt. Es erschallt ein Lob der bunten Lebensstile, wo nun Bellah & Co. von „Lebensstil- Enklaven“ sprechen. Und zwar kritisch, um den von identischen Konsummustern gebildeten Gruppen, den Wohlstandsinseln von Schöner Wohnen bis Schicker Essen, die Gemeinschaft entgegenzusetzen, die Tradition und Erinnerung teilt.

Kommunitaristen ohne Wissen

Gemeinwohl contra Eigennutz, politisches Engagement statt Konsumismus — Berührungspunkte mit der gesellschaftskritischen Linken gibt es bei aller konservativen Grundströmung. Und liebte nicht auch die 68er Generation die Woodstock-Gemeinde und erkor die Gemeinschaft, wiewohl nur als Wohnmodell, zur alternativen Lebensform? Anders als deren politisierte Köpfe allerdings, die nach dem „ganz anderen“ Gesellschaftsmodell riefen, begnügt sich der Kommunitarismus mit der Tradition. (Wodurch er sich vom Vorwurf des Utopismus sicher wähnt.) Nicht Neuland soll betreten, sondern die Schätze früherer Gemeinschaftlichkeit sollen ins Bewußtsein gehoben werden.

Entfernte Verwandte erheben auch diesseits des Atlantik ihre Stimmen, wo mancher ein Kommunitarist ist, ohne es zu wissen. Wenn der katholische Philosoph Robert Spaemann über die Fundamente von „Glück und Wohlwollen“ sinniert, so weilt er mehr in Hellas denn in Königsberg. Kollege Odo Marquard rehabilitiert — und zwar nicht Aristoteles gegen Kant, doch immerhin — die Üblich-keiten. Sein Abschied vom Prinzipiellen entlastet das Sosein von der Rechtfertigungspflicht: „Weil wir zu schnell sterben für totale Än- derungen und totale Begründungen“, bemerkt er sinnig, seien Ge- wohntes und Tradiertes unvermeidlich.

„Der Diskurs der Moderne“, schreibt Jürgen Habermas in seinem gleichnamigen Buch, „hatte seit dem Ausgang des 18.Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bindungskräfte, Privatisierung und Entzweiung; kurz: jene Deformation einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorruft.“ Dieser Diskurs scheint lange nicht beendet; auch jetzt wieder ist das Déjà vu beträchtlich. Bellahs Bemühen, im Rückgriff auf Tocqueville mit den republikanischen auch die biblischen Traditionen des puritanischen Amerika wiederaufleben zu lassen, besitzt derlei Erkennungswerte, verbirgt allerdings eher das philosophische Hochplateau.

Hellhörigen Zeitgenossen wird auffallen, daß Kommunismus und Kommunitarismus verdächtig ähnlich klingen. Von solcher Nähe werden die Kommunitaristen, die deutschen Ableger jedenfalls, zwar nichts wissen wollen. Doch ganz falsch ist der Verdacht nicht. Schon der junge Marx fand es unmöglich, daß, wie er schrieb, „die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Teilwesen verhält, degradiert“ wird. Sein

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Kopfschütteln galt liberalen Manifesten par excellence, der Deklaration der Menschenrechte in den französischen Verfassungen von 1791 bis 1793, zielte auf die dortige Bestimmung von égalité, liberté, sûreté und propriété.

Von der Freiheit, die ihre durch Gesetz gezogene Grenze dort hat, wo sie dem anderen schadet, bleibt in Marxens Analyse nur „die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ übrig; das Menschenrecht auf Privateigentum zeigt seine Fratze als „Recht des Eigennutzes“; mit Gleichheit und Sicherheit — der „Versicherung des Egoismus“ — wird in demselben Stil verfahren.

Die „liberale Ironikerin“

Schon hier begegnet die in etwaige kommunitaristische Manifeste mühelos einzuschmuggelnde Feststellung, daß die menschenrechtliche Fixierung aufs abgesonderte Individuum „jeden Menschen im anderen Menschen nicht dieVerwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden“ lasse. Es fehlt, was dann zur Gemeinschaftsvokabel der Internationalisten wurde: die Solidarität.

Der Liberalismus hatte und hat indes gute Gründe, neben liberté undégalité nicht auch die dritte Parole der Revolutionäre von 1789 unter seine Artikel aufzunehmen. Fraternité, Brüderlichkeit, eignet sich schlecht zum Verfassungsgebot. Eben darum aber, und weil die entzauberte Welt der Moderne das Bedürfnis danach unbefriedigt läßt wie seit je, muß man kein Hellseher sein, um zu prognostizieren: Antiliberale Gegenentwürfe werden, Francis Fukuyama hin oder her, die mitwandernden Schatten des Liberalismus bleiben.

Fraglich, ob es gelingt, zumindest seine ideelle Hitze zu kühlen. Fraglich, ob Richard Rorty Gehör findet. Die von dem amerikanischen Philosophen beschworene Haltung ist die der „liberalen Ironikerin“, ein neudefinierter Typus des Liberalen, den die Auffassung auszeichnet, „daß Grausamkeit das Schlimmste ist, was wir tun“. Ironisch wiederum bedeutet hier, sich der Kontingenz, der historischen Willkürlichkeit seiner Gesinnung bewußt zu sein: Man muß ohne letzte Gründe auskommen. Ein Abschied vom Dogma. Und so vertritt Rorty, gleichsam wider die eigene Zunft, den „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“, was zu durch und durch pragmatischen Kompromissen nötigt: „Wenn der Einzelne in seinem Gewissen Überzeugungen vorfindet, die für die öffentliche Politik von Belang, aber nicht zu rechtfertigen sind auf der Basis von Überzeugungen, die ihm und seinen Mitbürgern geminsam sind, muß er sein Gewissen auf dem Altar des öffentlichen Nutzens opfern.“

Ist's nur der Eigendünkel, der da erschaudert? Für den Philosophen heißt das, er darf seine Menschenbilder weiterträumen, doch sich nicht einbilden, man bedürfe ihrer zur Rechtfertigung der liberalen Demokratie. Ein derart geläuterter Geist, schreibt Rorty, „verfährt umgekehrt: Er stellt die Politik an den Anfang und stutzt die Philosophie dementsprechend zurecht.“ So mag denn der theoretische Liberalismus seine hyperrationalen Verstandesmenschen ersinnen — was zählt, ist die liberale Praxis. Der kommunitaristischen Kritik aber wird damit eines auf den Weg gegeben: Sie muß aufhören, sich so auszudrücken, „als seien politische Institutionen nicht besser als ihre philosophischen Grundlagen“.