Der Schlüssel zur Kathedrale

Europapokal der Landesmeister: FC Barcelona-Sampdoria Genua 1:0 n.V./ In einem unüblich spannenden und hochklassigen Endspiel gewann Barcelona mit dem üblichen Resultat den Cup  ■ Aus London Matti Lieske

Kühl bis ins Mark kommentierte Johann Cruyff, Trainer des FC Barcelona, zwei der vermutlich aufregendsten Stunden seiner sportlichen Karriere. Als Trainer sei dies zweifellos die größte Nacht seiner Laufbahn, als Spieler allerdings nicht. Als Aktiver, so der einstige Traum-Fußballer, der mit Ajax Amsterdam dreimal den Cup geholt hatte, gewinne man selbst, als Trainer gewännen die Spieler. Wiewohl er einen gewissen Anteil nicht abstreiten wolle. Dann analysierte Cruyff wortkarg und trocken, als verlese er ein ärztliches Bulletin, die Partie. Es sei ein kompliziertes Spiel gewesen und der Gegner eine hervorragende Mannschaft, die vor allem sehr ökonomisch spiele. Der Schlüssel zum Match? „Der Schlüssel war das Tor.“

Das Tor! Vom Ergebnis her fügte sich dieses Finale nahtlos in die Reihe seiner Vorläufer ein. In den letzten 15 Endspielen fiel nur dreimal mehr als ein Tor. Viermal mußte in den vergangenen acht Jahren das Elfmeterschießen entscheiden. Landesmeister-Finals gehören mithin zum Scheußlichsten, was der internationale Fußball zu bieten hat. In der jüngeren Geschichte blieben — abgesehen vom Heysel-Drama — einzig das sensationelle 1:2 des FC Bayern München gegen Porto (1987) und das atemberaubende 4:0 des AC Mailand gegen Steaua Bukarest (1989) in Erinnerung. Alles andere war pure Zumutung.

Diesmal jedoch schienen alle Voraussetzungen für ein großes Fußballfest gegeben. 75.000 bestens gelaunte, freudvoll tobende Menschen im imposanten Londoner Wembley- Stadion, „der Kathedrale des Fußballs“ (Cruyff), und als Kontrahenten die Meister der beiden attraktivsten Ligen Europas. Zwei Teams, deren Stärken eindeutig in der Offensive liegen. Dazu die großzügigen Ausmaße des heiligen Rasens in Wembley, die dem weiträumigen Spiel, das beide Mannschaften bevorzugen, entgegenkam. „Schönheit und Faszination“, erwartete Johann Cruyff, Genuas Coach Boskov sah „außerordentliche Möglichkeiten und ein hohes Resultat“.

Daß es anders kam, lag nicht zuletzt an Boskov selbst, der seinem Team entgegen aller vollmundigen Ankündigungen eine höchst vorsichtige Taktik verordnet hatte. Die Genuesen spannten in der eigenen Hälfte ein dichtes Abwehrnetz, und vorne lauerte allein der etwas indisponierte Gianluca Vialli auf lange Pässe von Mancini, Vierchowod, Cerezo und die Abstöße seines Torwarts Gianluca Pagliuca. Richtig brenzlig wurde es für Barcelona, wenn das kahle Haupt des Dauerläufers Attilio Lombardo in ihrem Strafraum auftauchte. Dreimal kam der dynamische 26jährige in der ersten Halbzeit frei zum Schuß, scheiterte jedoch an den routinierten Fäusten von Torwart Andoni Zubizarreta.

Auch Barcelona spielte vorsichtiger als sonst. Anstatt der gewohnt labilen Dreierkette sicherten diesmal mit Nando, Ferrer, Koeman und Juan Carlos vier Leute nach hinten ab. Vorne befleißigte sich der FC des üblichen schnellen Paßspiels, das Cruyff bereits in seinen aktiven Zeiten hoffähig gemacht hatte. Wie bei einer Handballmannschaft lief der Ball meist übner Ronald Koeman und den umsichtigen 21jährigen Pep Guardiola von links nach rechts und wieder zurück — beständig auf der Suche nach einer Lücke, die sich in der ersten Halbzeit selten bot, da Julio Salinas auf dem rechten Flügel ein Ausfall war, Michael Laudrups Pässe zu ungenau kamen und der Bulgare Stoitschkov links vergessen dahindarbte. Trotzdem spielten sich beide Teams eine erkleckliche Anzahl von Torchancen heraus, Beweis ihrer Offensiv-Qualitäten.

Nach der Pause verstärkte Barcelona den Druck. Immer häufiger tauchte die wuchtige Physiognomie des Hristo Stoitschkov in der Mitte auf und riß tiefe Löcher in die Sampdoria-Abwehr. Auf der anderen Seite kam Vialli etwas besser zum Zug, und die beiden waren es auch, die die größten Chancen des Matches besaßen. Erst zupfte Vialli nach einer raffinierten Lombardo-Flanke listig Koeman aus dem Weg und spitzelte den Ball knapp am Winkel vorbei, dann traf Stoitschkov nach exaktem Laudrup-Paß den Pfosten, und schließlich schaffte es Vialli allein vor Zubizarreta dem Leder einen solchen Schnitt zu verpassen, daß dieses sich kurz vor der Torlinie, als der italienische Block schon in hemmungslosen Jubel ausgebrochen war, doch noch mal anders überlegte und am Tor vorbehöppelte.

Als Cruyff anschließend durch die Einwechslung von Goicoechea für Salinas auch noch die rechte Seite belebte, entwickelte sich ein munterer Schlagabtausch mit vielen Torszenen, und die Verlängerung wurde diesmal nicht als zusätzliche Tortur, sondern willkommene Ausdehnung eines ansehnlichen Spektakels empfunden. Die „Forza Doria“-Chöre der einen Kurve mischten sich harmonisch mit der lautstark gesungenen Barça-Hymne der anderen, und während die Genuesen ihren Block mit Feuerzeugen illuminierten, tauchten die Barcelona-Fans den ihren mit bunten Tafeln in die gelb-roten katalanischen und die blau-roten Barça-Farben.

Eine etwas bittere Entscheidung des souveränen Schiedsrichters Schmidhuber in der 111. Minute einer insgesamt kraftlosen Verlängerung brachte die Entscheidung. Stoitschkov stocherte dem am Boden liegenden Invernizzi beharrlich den Ball auf den Leib, und Schmidhuber gab zum Entsetzen Genuas 20 Meter vor dem Tor Freistoß. Ein Job für Ronald Koeman („Das ist es, was ich in meinem Leben am besten kann.“). Stoitschkov tippte an, Bakero stoppte, Koeman traf ins linke Eck, und der Barça-Block hob schnurstracks ins Delirium ab. Der Schlüssel zur Kathedrale war zuguterletzt doch noch gefunden worden.

Sampdoria Genua: Pagliuca - Lanna - Mannini, Pari, Vierchowod - Lombardo, Cerezo, Katanec, Ivano Bonetti (73. Invernizzi) - Vialli (100. Buso), Mancini

Tor: 1:0 Koeman (111.)

Zuschauer: 75.000

FC Barcelona: Zubizarreta - Nando, Ferrer, Koeman, Juan Carlos - Eusebio, Guardiola (113. Alesanco), Bakero - Salinas (65. Goicoechea), Laudrup, Stoitschkov