KOMMENTAR
: Ekel vor Amerika

■ Die Hinrichtung von Roger Coleman im US-Wahljahr 1992

Ekel vor Amerika Die Hinrichtung von Roger Coleman im US-Wahljahr 1992

Wahljahre sind gute Börsenjahre. Für die Todeskandidaten in den US-Gefängnissen sind Wahljahre Schreckensjahre. Im Wahljahr 1992 werden in den USA mehr Menschen hingerichtet als jemals zuvor seit der Wiederzulassung der Todesstrafe im Jahr 1976. In Wahljahren präsentieren sich Abgeordnete, Senatoren, Gouverneure, Kandidaten und Präsident als unnachgiebige Law-and-order-Männer, Aufräumkommandos im grauen Anzug. Jeder ein kleiner Sheriff, jeder ein kleiner Rambo. Das ist die Rolle, die die gewalttätige US-Gesellschaft von ihren Politikern erwartet. Wahljahre schaffen jene Kopf- ab-Stimmung, in der kein Platz ist für Sozialklimbim, in der auch mal ein Unschuldiger für Gerechtigkeit und Wählerstimmen den Kopf verliert.

Roger Coleman, der 33jährige Bergmann, dessen ängstliches Gesicht um die Welt ging und unser Mitgefühl mobilisierte, ist in der Nacht auf den 21.Mai 1992 durch einen Stromstoß hingerichtet worden. Ob auch Coleman zuvor kahlrasiert wurde und eine Windel untergelegt bekam, damit er in seiner Todesangst nicht die Einrichtungen der amerikanischen Justiz beschmutzt, ist bisher nicht bekanntgeworden. Dafür wissen wir, daß er kurz vor der Hinrichtung einem Lügendetektor-Test unterzogen wurde, den er nicht bestand. Damit hat die Hinrichtung auch noch einen wissenschaftlichen Anstrich erhalten. In der Todeszelle, wenige Stunden vor der Exekution, ist man für solch einen Test bekanntlich in besonders guter Form.

Es fällt schwer, den Ekel vor dieser amerikanischen Gesellschaft zu sortieren. Worüber soll man sich mehr aufregen? Über die mörderische Altherren-Riege im Obersten Bundesgerichtshof? Mit 7:2 Stimmen haben sie ein Gnadengesuch abgelehnt. Über eine Justiz, die nur für Reiche einen guten Anwalt bereithält? Colemann hatte einen miserablen Pflichtverteidiger. Jeder mittlere Winkeladvokat hätte ihm die Todeszelle erspart. Oder über die selbst für US-Verhältnisse beispiellose Vermarktung des Todeskandidaten in den Medien? Die Tränen der Mutter auf allen Kanälen als Einschalt- Stimulanz und Kontrastprogramm für Coca-Cola- Werbung. Talk-Shows unterm Galgen, der Todeskandidat als Überraschungsgast. Nicht das Mitgefühl, sondern die Sensationsgier wird geweckt. Die Hinrichtung soll nicht verhindert, sondern bis vor die Schranken des elektrischen Stuhls dargestellt werden — live aus der Todeszelle.

Vielleicht war Roger Coleman unschuldig. Wir wissen es nicht. Dafür wissen wir, daß jede Hinrichtung ein unmenschlicher Akt der Barbarei ist, mit der die Strafenden die zivilisatorische Gemeinschaft verlassen. Aber: Was darf man von einer Nation erwarten, in der die Zahl der Opfer von Mord und Totschlag dreimal so hoch ist wie die der Verkehrstoten? Manfred Kriener