Der Weg eines Fürsorgezöglings zum Top-Kader der RAF

■ Das verpfuschte Leben des Peter-Jürgen Boock: dem rebellischen Proletarier erschien die RAF als Ausweg aus der No-Future-Perspektive

Geht es um den ehemaligen Top-Kader der RAF, Peter-Jürgen Boock, dann fühlen sich die Moralisten der Republik allemal auf den Plan gerufen. Und durchaus nicht nur die Linken.

Nach Boocks neuesten Geständnissen, daß er beispielsweise bei der Schleyer-Entführung im Herbst 1977 mitgeschossen habe, werden sie allerdings einmal mehr darauf zu achten haben, wo Kritik berechtigt ist und wo bigottes Pharisäertum beginnt.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur nützlich, sondern auch notwendig, die bislang vier Jahrzehnte eines verpfuschten Lebens noch einmal kurz zu rekapitulieren. Etwa die Kindheit im zerrütteten Elternhaus, oder die Jugend in Erziehungsheimen. Als Underground-Pflichtübung galt in vorrevolutionären Studentenkreisen der sechziger Jahre auch der Konsum von Drogen. Boock wurde so opiatabhängig. Für den rebellischen, doch gleichwohl dumpfen Proletarier Boock waren die Gründer der RAF schließlich die ersten, die ihn als Menschen ernst nahmen, ihn aus einer No-Future- Lebensperspektive erlösten.

Die selbsternannte Avantgarde des antiimperialistischen Kampfes, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe, die vor ihrem endgültigen Abtauchen in die Illegalität in Frankfurt ein Projekt mit Trebegängern und randständigen Jugendlichen aufgezogen hatten, nahmen sich Boocks an, um den jungen Mann als revolutionäres Subjekt zu rekrutieren. Ein letzter Versuch, sich in die kleinbürgerliche Geborgenheit der Ehe mit seiner Freundin Waltraud zu retten, mißlang und wurde durch den revolutionären Heidelberger Seelenarzt Dr.Wolfgang Huber stracks wieder aufgefangen.

Daß Boock dabei, trotz all der Therapie der alte blieb, interessierte seine studentischen Therapeuten herzlich wenig. Doch schlau war auch er dabei geworden, und „Charly“, wie ihn seine neuen Freunde zu nennen pflegten, profilierte sich unter den intellektuellen Bürgerkindern schnell zum talentiertesten Techniker der RAF. Er war allseits geschätzt und bei seiner ideologischen Anspruchslosigkeit leicht zu integrieren. Charly funktionierte wie kaum ein anderes Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ nach außen und nach innen.

Er hatte dabei immer eine Sonderstellung, da er der einzige von den nachfolgenden Generationen der RAF war, der die in Stammheim inhaftierten Gründer noch kannte, und dem diese auch vertrauten. Er hat dieses Privileg zu nutzen verstanden bis zu seinem Abgang. Das Ende von Boocks Ausflug in ein mörderisches Abenteuer ist bekannt. Während acht ehemalige Genossen sich in das relativ sichere „Nachbardeutschland“ absetzten, versuchte Charly in Hamburg ein neues Leben zu beginnen.

Doch schon am 22.Januar 1981 verhafteten ihn dort die Terror- Fahnder. Peter-Jürgen Boock aber hatte noch immer nicht gelernt, im rechten Augenblick zu reden und zu schweigen. Schon vor seiner Verhaftung als Aussteiger bekannt, hatten ihm Bundesanwaltschaft und BKA den Status eines Kronzeugen zugedacht und später aufzuzwingen versucht, obgleich der damals gesetzlich noch gar nicht existierte. Boock hat bis heute niemanden verraten. War das sein nächster entscheidender Fehler? Für seine Ankläger im Prozeß in Stammheim, die Karlsruher Bundesanwälte Peter Zeiss und Leo Kouril, ganz offenbar.

Die Wut der Anklagebehörde über den entgangenen Kronzeugen und die zynische Demütigung, mit der die Bundesanwälte Boock und seine Verteidiger Heinrich Hannover und Wolf Römmig in dem Prozeß verfolgten, erklärt, warum Journalisten, die das Verfahren begleiteten, diese Sonderjustiz verurteilten und für den Angeklagten Partei ergriffen.

Die Bundesanwälte schmähten Boock als Lügner, Heuchler und Mörder; die Unschuldsvermutung galt nichts mehr. Einen Gutachter der Verteidigung durften die Bundesanwälte, ungerügt vom Gericht, als „Narr“ titulieren. Ein hochangesehener französischer Arzt wurde einfach der Komplizenschaft mit der RAF verdächtigt, Boocks Verteidiger als die Helfershelfer eines Terroristen diffamiert. Wer von den anwesenden Journalistinnen und Journalisten vor diesem skandalösen Hintergrund von „Stammheimer Landrecht“ sprach, galt sofort als Freund im Geiste des Angeklagten.

Zu Beginn dieses Jahres wurde von einem Stuttgarter Amtsgericht ein Ermittlungsverfahren wegen Euthanasie endgültig eingestellt, das schon lange kein Aufsehen mehr erregte. Professor Rauch, der emeritierte Heidelberger Psychiater und frühere Kindereuthanasie-Arzt wird seine letzten Lebensjahre unbescholten verbringen können.

Er war es auch, den das Stuttgarter Oberlandesgericht als Gutachter für Boock bestellt hatte. Rauch sollte die Drogensucht und den psychischen Zustand von Boock beurteilen. Ein erster Befangenheitsantrag der Verteidigung wurde abgelehnt, einem zweiten zwar stattgegeben, Rauchs Aussage aber über einen Verfahrenstrick als Zeugenaussage wieder im Gerichtsprotokoll verewigt. Schamloseres und Niederträchtigeres hatte es zuvor nicht einmal in Stammheim gegeben.

Hätte der Angeklagte Peter-Jürgen Boock vor diesem Gericht und vor diesen Anklägern seine volle Schuld eingestehen sollen? Hätte er mehr offenbaren müssen, als jedem beliebigen anderen Angeklagten zusteht? Hat ihn das Gericht nicht gleichwohl schon damals für all die Taten nach der irrigen Kollektivschuldthese verurteilt, die er jetzt zu gestehen bereit ist? Konnte Boock subjektiv, in den vergangenen Jahren schon wieder eine neue Wahrheit präsentieren? — Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Wolf Römmig, Boocks Verteidiger, hat sein Mandat schon bald nach Abschluß des ersten Verfahrens niedergelegt.

Von seinem Mandanten enttäuscht, meinte er, Peter-Jürgen Boock sei immer ein Fürsorgezögling und Dealer geblieben — auch gegenüber seinen Verteidigern. Dietrich Willier, Stuttgart