Den Faßbinder-Skandal entschärft

■ Brecht-Imitator Peter Flannery bringt die britische Version

Ein Theaterautor, der den aufhaltsamen Aufstieg der Heiligen Johanna auf dem Kongreß der Weißwäscher beschreibt, der Macheath eine Zigarre in den Mund steckt und Sätze wie Gesetze schreibt— etwa: „Große Fische fressen kleine“ —, der will und kann nur ein zweiter Brecht sein wollen. Der Autor, ein Brite, hat die Dreigroschenoper samt einem exemplarischen Helden für eine Maßnahme bestückt, die man die Ballade vom Aufstieg und Fall des Peter Singer nennen könnte. Brecht und dessen Mahagonny kopiert er minutiös, um das eigene Stück nach gleichem Muster den Namen Singer zu geben. Kleine Fische fressen großen Brecht.

Peter Flannery schreibt seit 1975 gegen den Thatcherismus und glaubt so, Brecht zu Recht kopieren zu dürfen. Er will die Mechanismen des Kapitalismus anprangern. Wie Brecht schwärmt er für die asozialen Helden, für Arturo Ui oder Macheath oder eben Peter Singer, der auf dem Wohnungsmarkt der Nachkriegszeit rücksichtslose Spekulation betreibt und am Ende der gute Mensch von London sein wird. Singer ist Pole, zugleich ein Jude, der in Auschwitz war und die Weisheit mit Suppenlöffeln aß: „Nur ein toter Jude ist ein guter Jude. Ich lebe. Warum soll ich also ein guter Jude sein?“

Die deutsche Erstaufführung dieser Brecht-Hommage, die weitaus mehr Bedeutung als die Revision von Faßbinders Der Müll, die Stadt und der Tod besitzt, entstand im wohlfeilen Münchner Residenztheater als Varieté zwischen Schultheater und der Ballade vom Juden, der, wenn er fällt, nur auf seine Füße fallen kann. Bei Faßbinder sagt der reiche Jude: „Es ist ein Spiel. Die Regeln sind vorher verteilt, der Sieger ermittelt, ehe das Spiel noch beginnt.“

Bei Flannery deucht das Spiel zunächst spannender. Einen Schiedsrichter gibt es nicht, jedes Foul wäre ein Treffer — doch der Sportkommentator wendet sich ab ans Publikum: Ob es sich vorstellen könne, fragt der Conférencier, eine Bombe in der eigenen Straße detonieren zu sehen — und resümiert dann: Krieg ist eine scheußliche Sache, Auschwitz die Hölle, Vergangenheitsbewältigung eine Tortur mit Tränen, der Kapitalismus eine Folge vertaner Schuld und Sühne. Man will sich auf dem Niveau vorsichtiger Gemeinplätze einigen: Wer Stasi-Vergangenheit nicht aufarbeitet, wird wieder Monopolist werden wollen. Wer Nazi war, würde Millionen Obdachlose abermals in Ghettos verfrachten, um sie von der Straße zu bekommen. Wer Jude war, muß den Kampf in Auschwitz zwangsläufig mit einem Kampf um einen Platz im Leben fortsetzen — warum also nicht durch Spekulation, war sein Leben doch selbst ein Spekulationsobjekt: Arbeitskraft oder Gaskammer...

Bei Faßbinder ist der Jude Zyniker, bei Flannery ist er ein Hochstapler und Vabanquespieler. Bei Faßbinder hat er die weiße Weste, die ihm die Persilschein-Mentalität der Mörder besorgt hat. Bei Flannery ist er auf sich selbst gestellt. Peter Singer, der polnische Jude, ist nach seiner Zeit in Auschwitz ans Flüchtlingsgestade Britanniens emigriert und besitzt dort eine kleine Bleibe, mehr nicht. Er vermietet das Zimmer für einen Wucherzins unter. Vom Gewinn mietet er eine neue Bleibe, gewinnt wieder, kauft auf Hypothek die ersten Häuser, wird aus dem Nichts ein Spekulant um Wohnraum, setzt Mieter rücksichtslos vor die Tür, verkauft und kauft. Der Aufstieg.

Als Frankfurt 1985 seinen Faßbinder-Skandal hatte, setzte die jüdische Gemeinde die Absetzung des Stücks durch. Peter Flannery mit demselben Thema wird beklatscht. Flannery macht zu Faßbinder nur einen winzigen Unterschied. Singers Aufstieg durch Spekulation und Wucher ist sein in Auschwitz erlernter Überlebenskampf. Kein vermeintlicher Racheakt an den Deutschen, wie es bei Faßbinder heißt: „Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud' ist und wir die Schuld tragen.“ Flannery kommt darüber leicht hinweg, siedelt das Stück in England an, wo der Nazi-Haß nach wie vor das Lieblingskind der Boulevardpresse ist. Spekulation und Wucher erklären sich in Flannerys Stück zudem biographisch, als ein manisch gewordenes Überlebenmüssen. Anders als bei Faßbinder hat der Jude eine Geschichte. Singer ertrinkt nach dem Zusammenbruch seines Spekulationsimperiums in einem Tümpel. Pause. „Aber wer sagt denn, daß ein Jude nicht schwimmen kann?“ Singer lebt weiter, nun auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Der Fabrikant, der Obdachlosigkeit am Fließband produziert, betreibt nun eine Obdachlosenküche. Gelernt ist eben gelernt. Die Suppe, die er in Auschwitz auslöffeln mußte, kennt er gut. Die Suppenschüssel ist sein Makel der Unfreiheit. Kurz vor Singers Fall wird sie ihm sein Freund und Auschwitz-Gefährte Stefan in die Hand drücken.

Flannerys Stück, 1989 geschrieben und von Gert Heidenreich mit dem Zeigefinger übersetzt, lebt von kausalen Machanismen, präsentiert sie jedoch mit viel Belehrung während der Umbaupausen vor dem Vorhang, die dem Stück die Kraft raubt, die Stringenz unterbricht, Gemeinplätze streut. Der Abend wird lang und länger.

Der Regisseur Thomas Schulte- Michels schafft es, etwas anbiedernd zwar, den Juden sympathisch zu zeichnen, als eine Art Felix Krull, der den Raffkes nur verspricht, wonach diese sowieso verlangen. Zweierlei aber gelingt ihm nicht: zum einen zu unterscheiden, wo die Story leuchtet und wo sie unsinniger Moralunterricht bleibt. Nur: Der unerträgliche Unterricht rettet vor dem Skandal, das bloß Gutgemeinte vor einem erneuten Protest der jüdischen Gemeinde. Zum anderen: Michael Mendl als Peter Singer ist der unschlagbare Held des Abends, die übrigen bloß Staffage. Das sieht man ungern: eine lange Besetzungsliste und nur einen, der zum Spiel kommt. Eine Meute Schauspieler als Stichwortgeber für Singer, die Beispiel spielen, nicht Schauspiel. Flannerys Stück, Brecht hin oder her, ist keine Parabel, sondern eine Ballade. Schulte-Michels nimmt diesen entscheidenden Unterschied nur halbherzig auf, inszeniert also beides und läßt beides ins Mittelmaß laufen, entschärft den Kern. Am Theater litt man so wie auf der Schulbank. Arnd Wesemann

Singer von Peter Flannery. Regie: Thomas Schulte-Michels, Bühne: Susanne Thaler. Mit Michael Mendl, Daniel Friedrich, Alois Strempel, Gerd Anthoff. Münchner Residenztheater. Weitere Vorstellungen: 30.Mai, 4./5./14./21. und 28.Juni