Mythos auf kurzen Beinen

Die USA vergewissern sich ihrer kurzen Geschichte immer wieder neu — im Cinema. Neue Filme von Spike Lee, Oliver Stone und Michel Apted thematisieren Genozid, Vertreibung und Rassenunruhen, auch gegen die Stimmung in New York. Reise- und Kinoeindrücke  ■ Von Christiane Peitz

Wer zuerst da ist, darf eine Fahne in die Erde stecken: Dies Land ist mein Land. Grundbesitz für die Schnellsten — nach diesem Prinzip teilten die amerikanischen Siedler vor hundert Jahren in Oklahoma die Prärie unter sich auf; als „big land rush“ ging die ungewöhnliche Grundstücksaufteilung in die amerikanische Geschichte ein. Ron Howard hat das legendäre Ereignis am Ende seines Einwanderer- Films Far and away aufwendig in Szene gesetzt: donnernde Pferdehufe, ganze Familien mit Frauen und Kindern reiten und fahren und rennen um ein paar Hektar Land — Verdrängungswettbewerb im Zeitalter des Planwagens. Und natürlich siegen die Filmhelden, Tom Cruise und Nicole Kidman, mit erhobener Fahne in gemeinsam geballten Fäusten.

Nicht nur der Besitz, so suggeriert die Schlußapotheose, gebührt nur den Mutigsten, Tüchtigsten und Ehrgeizigsten, auch die Liebe ist nur im freien Amerika möglich. Das durch Klassenschranken getrennte Paar — Cruise ein armer irischer Bauer, Kidman verwöhnte Tochter des Landlords — findet erst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zusammen. Der 140minütige Zweikampf der so offensichtlich füreinander Bestimmten (Cruise und Kidman sind auch im wirklichen Leben verheiratet) nimmt mitunter unfreiwillig groteske Züge an: kein Kuß ohne Declaration of independence. Far and away, der seine europäische Premiere Anfang der Woche in Cannes hatte, kann in den USA getrost als illustrierte Nationalhymne zu Unterrichtszwecken eingesetzt werden.

Nur einmal wirft die Kamera einen Blick auf die Zuschauer und streift dabei, wie aus Versehen, zwischen all den irischen Einwanderern ein paar Indianer — die Einheimischen als Fremdlinge. Daß dieses Land ihnen einmal gehörte, daß die Prärie nicht immer schon leer war und für den Wettlauf der Farmer erst erobert werden mußte, verschweigt der Film. Kevin Costners Der mit dem Wolf tanzt belebte den Mythos von der Zeit davor, Ron Howard illustriert die Phase danach. Was dazwischen liegt, der Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, bleibt ausgespart. Der sekundenkurze Blick auf die Zuschauer macht erst deutlich, was fehlt: In Far and away haben die Einheimischen das Feld komplett geräumt.

Michel Apteds „Thunderheart“: Trotz Folklore ein Film gegen den Mythos der Prärie ohne Indianer

Sonnenuntergangsstimmung. Ein Indianer, wie bei Karl May mit Federschmuck und Kriegsbemalung, wird von hinten erschossen und stürzt, effektvoll in Zeitlupe, mit hocherhobenen Armen kopfüber in den Fluß. Die Leiche schlägt ein paar Wellen, dann herrscht Frieden. Menschenleere Hügellandschaft, so weit das Auge reicht. Noch eine Tabula rasa. Die Szene blendet über, in die Zeit nach der Landnahme; jetzt durchkreuzen Highways das Blickfeld. So beginnt Michael Apteds Thunderheart, zur Zeit ebenfalls in den US-amerikanischen Kinos zu sehen. Ein FBI-Agent kommt Mitte der siebziger Jahre nach Süd-Dakota, soll mysteriöse Morde in einem Indianer-Reservat aufklären und erfährt dabei vom brutalen Vorgehen seiner Kollegen inklusive weißer Killerkommandos gegen die ohnehin verarmten Native Americans.

Zwar erspart uns der mit Stars wie Val Kilmer und Sam Shephard besetzte Film (eine TriBeCa-Produktion von Robert de Niro) nicht die Folklore, nicht die Friedenspfeife, die erwähnten Sonnenuntergänge und die großäugigen Kleinkinder. Aber immerhin handelt es sich um eine der ersten amerikanischen Großproduktionen, in denen das Schicksal der wenigen heute noch lebenden Indianer (1500: ca. 5 Millionen, 1900: 250.000), die Reservatspolitik der Regierung und Menschenrechtsverletzungen wie das Massaker in Wounded Knee von 1973 oder die Vergiftung der Reservatsflüsse durch Uran (an der in den 70er Jahren viele Kinder starben) im Mittelpunkt stehen. Ein Film gegen den Mythos.Schon immer hat sich die amerikanische Nation im Kino gerne seine eigene Geschichte erzählt (was daran liegen mag, daß sie so kurz ist), und schon immer verriet die neueste Variante des Mythos vom American dream viel über die derzeitige Befindlichkeit ihrer Bewohner: Far and away verklärt qua Historie die Reagan/Bush-Politik, die die Reichen reicher und die Armen ärmer macht, nur die gnadenlos Tüchtigen noch hochkommen läßt und die zunehmende Zahl der Arbeitslosen und Homeless people weiter ignoriert: der Film zum Wahljahr. Die New Yorker Preview lief just an jenem Abend, als Manhattans Bewohner aus Angst vor ähnlichen Unruhen wie in Los Angeles Geschäfte, Büros und Schulen schlossen und angesichts der irritierenden Bilder von den Straßen L.A.s lieber im heimischen Wohnzimmer vorm Fernseher sitzenblieben. Selbstkritik wie in Thunderheart ist im Kino nach wie vor wenig erwünscht, und wer sie eigenmächtig äußert, darf sich über die Folgen nicht wundern.

Spike Lee und Oliver Stone: Arbeit an den Helden Malcolm X und JFK

Zum Beispiel Spike Lee. Mickey Rourke hat ihn öffentlich und persönlich für die Aufstände in L.A. verantwortlich gemacht; Lee, der die Riots als überfällige Reaktion auf die sozialen Mißstände in den schwarzen Vierteln ausdrücklich begrüßte (siehe taz vom 16.5.), reagierte für seine Verhältnisse geradezu zahm. Rourke sei ein „mieser Südstaatenrassist..., ein motorradfahrender Idiot“. Sein mit Spannung erwarteter neuester Film Malcolm X wurde den Studiobossen der Warner Brothers übrigens genau an jenem Morgen vorgeführt, als das Rodney-King- Urteil für den ersten Aufruhr sorgte. Unmittelbar nach Malcolm X mußten die Studios schließen; 'Variety‘ lobte das Timing.

Oder Oliver Stone. Zwar trägt sein umstrittener Film JFK eine gehörige Portion zur weiteren Mythen- und Legendenbildung vom patriotischen US-Bürger bei, die Anwürfe wegen Stones Kritik an Kennedy- Nachfolger Johnson und am CIA sind trotzdem noch nicht verstummt. Seit 20. Mai ist JFK als Video-Kassette erhältlich, Warner Bros. hat schon vorher angekündigt, daß alle Kongreßmitglieder eine Kassette bekommen werden, in der Hoffnung, daß sie sich nach Ansicht des Films für eine Öffnung der Kennedy- Mord-Akten einsetzen. Zufällig stand am gleichen Tag Jack Valenti, Chef des US-Filmproduzenten-Verbandes, wegen möglicher Aktenöffnung als Zeuge vor einem Anhörungsausschuß. Zwar plädiert auch Valenti für soviel Öffentlichkeit wie möglich, Stone hat er dennoch als Propagandisten beschimpft, JFK mit

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Leni Riefenstahls Triumph des Willens verglichen und besonders die „monströse Scharade über Präsident Johnson“ angeprangert. Der Mann muß wissen, wovon er spricht: Valenti war Berater von Johnson und beim Kennedy-Mord dabei, in einem Wagen der Autokolonne. Nun hat Stone zurückgeschossen und Valenti als Faschisten bezeichnet.

Daß in den USA Kunst und Wirklichkeit so besonders leicht verwechselt werden (ein Umstand, den Stone für JFK virtuos zu nutzen wußte), mag daran liegen, daß Realität und Fiktion in Amerika ein klein bißchen dichter beieinanderliegen als anderswo. Was wiederum in der oben skizzierten Sehnsucht nach Geschichte seine Ursache haben mag. Nur so ist zu erklären, daß die Geschworenen im Rodney-King-Prozeß offenbar überzeugt werden konnten, beim Video von den prügelnden Polizisten handele es sich um die übliche verlogene Hollywood-Ware; und nur so wird verständlich, warum in der Woche nach L.A. sich ausgerechnet Robert Altmans raffinierte Hollywood-Satire The Player trotz Basic instinct an den Kinokassen behaupten konnte. Und vor den New Yorker Off-Kinos standen die Zuschauer für James Ivorys Forster-Verfilmung Howards End Schlange: Schließlich erzählt die zu Jahrhundertbeginn in England angesiedelte Geschichte von nichts anderem als vom Reichtum auf Kosten der Armen. Zwar setzte das 'New York Review of Books‘ die feinsinnige Story mit dem Thatcherismus in Verbindung, das Publikum wird aber eher die eigene Rezession im Hinterkopf haben: ein Film für Clinton- Wähler mit gehobenem Geschmack.

Am 17. Mai ging, ebenfalls in New York, das Human Rights Watch Film Festival zu Ende. Auf dem Programm stand unter anderem Damned in the USA, eine britische Channel- Four-Produktion über die Auseinandersetzungen und den Zensur-Prozeß zur Mapplethorpe-Ausstellung, der Musik der 2 Live Crew und Scorseses Jesus-Film. Die in Europa bereits preisgekrönte Dokumentation darf in den USA seit sieben Monaten nicht vertrieben werden. Der Grund: Einer der Interviewten, Reverend Donald E. Wildmon, entschiedener Porno-Gegner und Präsident der mächtigen American Family Association, hält eine Kombination seines Auftritts mit der Präsentation von Mapplethorpe-Bildern für rufschädigend, jedenfalls in den USA, und hat die Produzenten auf zwei Millionen Dollar Schadensersatz verklagt. Nun muß ein Gericht in Mississippi über die ungenaue Vertragsklausel entscheiden, die Wildmon ein Mitspracherecht bei der Auswertung des Films garantiert. Auch die Erlaubnis zur zweimaligen Aufführung im Rahmen des New Yorker Festivals mußte erst mit Unterstützung der American Civil Liberties Union und mit juristischen Mitteln erstritten werden. Die New Yorker Anwältin der Bürgerrechtsvereinigung ist pessimistisch; Damned in the USA wird kaum je in die Kinos kommen.

Eröffnet wurde das Human-Rights- Festival mit Marcel Ophüls' Novemberdays. Darin erkundigen sich einige Ostberliner auf ihrem ersten Trip in die westliche Hälfte der Stadt beim Interviewer nach dem American Indian Movement (AIM). Und erst kürzlich wurde bekannt, daß noch unter Gorbatschow insgesamt 21 Millionen Russen einen Aufruf zur Freilassung des seit 15 Jahren inhaftierten AIM-Aktivisten Leonard Peltier unterzeichnet haben. In den USA hingegen ist der Name Peltier nur wenigen bekannt. Incident at Oglala, ein Dokumentarfilm unter Regie von Thunderheart-Regisseur Michael Apted, produziert und kommentiert von Robert Redford, versucht das jetzt zu ändern.

Pünktlich zum L.A.-Skandal: ein Dokumentarfilm über den gefälschten Prozeß gegen Leonard Peltier

Der Schauplatz der beiden Apted- Filme ist identisch: das Pine-Ridge- Reservat in Süd-Dakota. 1975 kam es dort, nach Wounded Knee, zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Reservatsbewohnern und rassistischen Bürgerwehr-Gruppen, die ganze Dörfer ungestraft zerstörten und die Einwohner niederschossen. Zwei FBI-Beamte wurden erschossen — mit der Folge, daß das FBI eine der größten Fahndungsaktionen seiner Geschichte startete. Vier Lakota-Indianer wurden des Mordes angeklagt und Leonard Peltier zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Apted rekonstruiert nüchtern und minutiös das Geschehen, interviewt den Inhaftierten und seine Freunde, Anwälte, Geschworene, ehemalige FBIs, Zeugen, Angehörige von „verschwundenen“ und gelynchten Indianern und AIM- Sprecher John Trudell (der in Thunderheart übrigens eine Peltier-ähnliche Figur spielt).

Das Ergebnis ist von frappierender Deutlichkeit: Peltier ist erwiesenermaßen unschuldig, Beweise waren gefälscht, Gegenbeweise unterschlagen und Belastungszeugen gekauft worden; sie gestehen es selbst vor laufender Kamera. Mittlerweile hat sich sogar der wirklich Schuldige gemeldet und sagt, anonym, zugunsten von Peltier aus. Peltier und seine Freunde wissen sogar, um wen es sich handelt; aber ein Lakota denunziert seinesgleichen nicht, es wäre gegen jede Tradition und Kultur, wie Peltier im Film erläutert. Mehrere Anträge für eine Wiederaufnahme des Verfahrens wurden in den letzten Jahren abschlägig beschieden; das fünfte Berufungsbegehren liegt derzeit zur Entscheidung vor Gericht, und wer eine Kinokarte für Incident at Oglala kauft, dem wird eine vorgedruckte Postkarte an George Bush ausgehändigt mit der zusätzlichen Aufforderung: Schreiben Sie dem Senator.

Die einzigen, die noch heute auf der Schuld Peltiers beharren, sind die (ausschließlich weißen) Geschworenen des Prozesses von 1977. Eine verblüffend aktuelle Parallele zum Urteilsspruch der Geschworenen im Rodney-King-Prozeß.

Wenige Tage nach der Apted-Premiere meldete die 'New York Times‘ neue Zahlen aus Los Angeles. Eine Woche nach den Aufständen waren in der kalifornischen Metropole über 20.000 Gewehre verkauft worden, zusätzlich zu der ohnehin schon vorhandenen halben Million in L.A. The show must go on.