Vom Glück des rechten Gehens

■ Joachim Jaudas, Bergführer, über die unvermeidliche Entdeckung der Langsamkeit und die Erotik der Landschaft

Joachim Jaudas bringt seit Jahren bremischen Wandervögeln das Gehen und Steigen bei. Sommers ist er Bergführer und verschwindet oft wochenlang im Gebirg, winters kehrt er zurück und ist im bürgerlichen Beruf Soziologe. Der taz erzählte er, wohin am Ende der Gleichtakt des Gehens führt.

taz: Gehen macht glücklich. Warum?

Joachim Jaudas: Wenn man's richtig anfängt, denkt man nach einer Weile, man könnte jetzt einfach immer weitergehen, ohne Pause, ohne Essen, ohne Ende.

Eine Art von Wahn?

Wenn man's biochemisch sieht, ja. Nach drei Stunden sind natürlich die Glykogenspeicher leer, und man muß zumindest wieder was essen; aber die Leichtigkeit, in der man sich plötzlich bewegen kann, die erzeugt wahrhaftig ein Gefühl von Glück. Man hat dann, wie es heißt, quasi seinen Rhythmus gefunden: einen ungeheuer langsamen, fast meditativen Gleichtakt der Bewegung.

Jeder den seinen?

Ja. Jeder hat so seinen Takt, in dem er über ungemein lange Strecken leistungsfähig ist. Aber das ist in meinen Kursen schon das erste Problem: Die Leute können's nicht fassen, daß sie sich plötzlich nur noch, nun ja, mit einem Zehntel ihrer üblichen Schrittgeschwindigkeit bewegen sollen, und absolut gleichmäßig. Manche kriegen da richtig Probleme mit dem Gleichgewicht. Wer sich aber nicht an dieses sein Tempo hält, muß immer wieder stehen bleiben, kriegt ein rotes Gesicht, kommt aus der Puste.

Wie Stehen im Gehen

Warum ist es so schwierig, sich zu verlangsamen?

In unserm Alltag gibt's nur das Gegenteil: ganz kurze, ebene Strecken. Sich auf lange Dauer einzurichten muß man erst wieder lernen.

Wenn man den Takt mal hat: wie wirkt das auf den Körper?

Man ist völlig gefeit davor, in diese Sauerstoffschuld zu kommen, wo man typischerweise japst und hechelt. Der langsame Takt führt ja quasi zu einer Einheit aus Ruhe und Bewegung.

Zum Stehen im Gehen?

So ungefähr. Jedem Muskel wird nur die Anstrengung zugemutet, von der er sich gleich wieder erholen kann.

Und die Seele findet Ruh' im Wiegen?

Ja. Allerdings sollte man deshalb

Achim Jaudas

nicht gleich mit dem Oberkörper wippen. Das raubt Kräfte, weil man ihn immer wieder unnötig beschleunigt und abbremst.

Tiere rennen nur, soweit sie müssen. Ist der auf Langstrecken berechnete Gleichtakt des Gehens eine kulturelle Leistung?

Schon. Man entläßt den Körper aus dem Maschinentakt, dem er sonst unterworfen ist, und führt in dem Gelände zu, wo er seinen natürlichen Takt finden muß.

Aber auch dort läßt er sich disziplinieren: von den Gegebenheiten des Geländes.

Ja. Jeder Tritt ist anzupassen, jede Steigung verlangsamt das Tempo.

Liegt darin vielleicht die Wohltat? Daß die großen Lebensfragen zerlegt werden in zehntausend winzige Entscheidungen um den nächsten Tritt?

Auf jeden Fall. Wenn die Leute sich dabei erstmal sicher fühlen, dann ist's gar nicht mehr so weit zu dem Trancezustand, von dem wir anfangs sprachen. Oft wach ich während langer Wanderungen auf und frag mich: Was hab ich denn die letzte halbe Stunde lang gemacht? Da geht man oft wie von allein...

Es geht seinen Gang, „es“ geht in einem?

Ja. Das ist fast etwas Überpersönliches.

Wenn die Leute bei Ihnen das Gehen lernen, heißt das, daß sie's vorher nicht konnten?

Nicht im Gelände. Da wackeln ihnen schon oft die Knie. Man muß

Mann

vor Bergspitzen

ja plötzlich den Körper, den ganzen Stützapparat, viel feiner koordinieren, die Tritte genauer setzen.

Männer verlassen sich irrtümlich auf ihre Muskeln

Sehen Sie da Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Erhebliche. Die Frauen finden viel leichter ihr Gleichgewicht, ihren Rhythmus. Die Männer neigen zur sinnlosen Hetzerei und machen auf Kraft und verlassen sich irrtümlich auf ihre Muskeln. Die haben's in meinen Kursen viel schwerer.

Und nachher?

...haben alle gelernt, ihren Füßen zu trauen, auch an heiklen Stellen, wo sie vorher noch Angst hatten abzurutschen. Auch das empfinden viele als Glück: daß man so leichthin gehen kann und doch so sicher, als wär man mit dem Boden zusammengenagelt.

Die Angst ist dann weg?

In dem Maß, in dem die Kenntnis wächst und das Zutrauen zur Haftreibung der Sohlen: Die Leute sind oft verblüfft, wie steil ein Fels sein kann, und man verliert dennoch nicht den Halt. Wir üben das mit ihnen. Da lernen sie, ihr ganzes Gewicht senkrecht auf den Füßen ruhen zu lassen...

...was in der Bioenergetik das „Erden“ heißt...

...ja, als würden sie regelrecht ihre Trittspuren in den Fels drük

ken.

Rennen die Leute so massenhaft ins Gebirg, um sich mit dem Boden so heftig zu verzahnen?

Das ist sicher ein Motiv. Dann aber müssen sie erst einmal lernen, wie man über Schnee geht, wie durch Geröll, wie über nasses, rutschiges Gras, was ja an abschüssigen Hängen viel gefährlicher ist, als man glaubt.

Das klingt ja abenteuerlich. Ist die Natur so erotisch?

Schon. Und wer sich hineinlocken läßt, muß ja dann auch eine enorme Aufmerksamkeit für die kleinsten Details des Geländes aufbringen. Das ist schon eine besondere Form der Annäherung

Vielleicht gar eine sehr zärtliche?

Ja, unbedingt. Ich selber find das Wandern auf Skiern noch schöner: Da schreibt man ja richtig seine Spur in die Landschaft.

Der Schriftsteller Werner Kofler sagt: „Schreiben ist wie Bergwandern im Kopf.“ Ist Bergwandern wie Schreiben im Gelände?

Wenn man nach einem langen Aufstieg mit Skiern zurückschaut, sieht man, wie im Idealfall die Spur die Formen des Geländes aufgenommen hat: die umfahrenen Huckel, die gequerten Steilhänge. Und umgekehrt an fremden Spuren erkenne ich sofort, ob da einer drauflos gerannt ist, einer von den Hechlern. Man sieht schon an der Spur, wenn sie kreuz und quer bloß irgendwie hinauf geht, die Hektik. Der Idealfall ist die Anpassung, das Ausnützen der Bodenformen. Dafür

gibt man ja auch einen Teil seiner Autonomie auf und läßt sich in jedem Augenblick vom Gelände vorschreiben, was zu tun ist.

Das Subjekt verschwindet im Gelände, indem es sich ihm angleicht.

So wie der Handwerker für eine Zeit in den Erfordernissen seines Werkstücks verschwindet: vorübergehend. Hinterher haben Handwerker und Wanderer die Freude am Produkt.

Man arbeitet in beiden Fällen an einer Art Körper. Im Falle der Landschaft ist es ein imaginärer.

Ja, dazu passen auch die Metaphern, die man da gerne gebraucht, zum Beispiel die vom jungfräulichen Schnee...

...oder die Formen der Hügel und die Beschaffenheit der Höhlen.

Dennoch würde ich von einer direkt sexuellen Komponente nicht sprechen. Da fehlt die Raserei. Aber um eine Art von langsamem Verschwinden in einem Einklang geht es sehr wohl.

Nun geht jede Wanderung ja auch durch die eigene Seelenlandschaft. Ich sag nur: Abgründe.

Es fällt mir tatsächlich auf, daß ich manchen Leuten, die's eigentlich nicht mehr nötig hätten, eine große Angst vor selbst den kleinsten Abgründen nicht nehmen kann. Das deutet schon drauf hin, daß sich beim Gehen noch ganz andere Geschichten abspielen. Aber ich weiß nicht, ob beim Gehen wirklich die Landschaft so ein Modell von inneren Zuständen ist. Ich kann nur hoffen, daß das keine allzu große Rolle spielt. Man hat ja mit den tatsächlichen Abgründen genug zu tun. Interview: Manfred Dworschak