: Scheibengericht: Igor Strawinski/Gioacchino Rossini/Alessandro Moreschi/Rosina Sonnenschmidt/Jochen Kowalski/Richard Barone/Wiener Philharmoniker/Erika Pluhar
Igor Strawinsky:
Le Sacre du Printemps. Perséphone. The London Philharmonic, London Philharmonic Choir & Chorus, Tiffin Boys Choir, Ltg. Kent Nagano. Virgin Classics VCK 7.91511-2.
Nekrophilie. Beinahe auf den Tag genau vor zehn Jahren hat Heinz- Klaus Metzger auf einem Strawinsky-Kongreß in Mailand die These vertreten, Strawinsky sei ein „auf Trauerfälle ausgesprochen spezialisierter Komponist“ und seine Musik durch und durch nekrophil: von einer tiefen Leidenschaft beseelt für alles Vergangene, Tote, Vermoderte. Eine Provokation, zunächst gemünzt auf die neoklassizistische Hinwendung zur Musik der Alten. Aber abgesehen davon; abgesehen auch von der Fülle an Widmungskompositionen, „mit denen er andere Menschen begrub“, wimmelt es wirklich im Werke Strawinskys von Toten, Todesengeln, Totenfeiern und Todesritualen.
In dem 1934 uraufgeführten Melodram Persephone geht es um den Mythos von der Tochter der Frühlingsgöttin, die in den Hades hinabsteigt, um dem Schattenvolk ein bißchen Licht zu bringen. Die dann wieder auf die Erde kommt, damit es Frühling werden kann. Die aber dann ihrer Pflicht gehorcht (oder vielmehr der Faszination des Abgestorbenen erliegt) und abermals in die Tristesse des Totenreichs zurückkehrt. Selbstverständlich hat die Sache eine tiefere Bedeutung. Am Ende erläutert der Chor, angereichert durch Kinderstimmen, die jedem Gärtner geläufige Moral von der Geschicht': daß nämlich „erst wenn sich das Samenkorn ergibt in unterirdischen Tod...der Zukunft goldene Ernte“ zu erwarten sei.
Das Werk, zu dem André Gide das Libretto schrieb, ist eine schwer erträgliche Mischung aus kalten Metaphern und heißem Pathos. Die Musik schwankt zwischen fett orchestrierten und ausgedünnten kammermusikalischen Partien, die gleichermaßen von großer Schönheit und manchmal so aufdringlich illustrativ sind, daß zum Kitsch keine Haaresbreite mehr fehlt. Jahre später dazu befragt, was er über die Verwendung „von Musik als Untermalung der Rezitation (Persephone)“ zu sagen habe, hat Strawinsky unwirsch geantwortet: „Fragen Sie nicht. Sünden können nicht ungeschehen gemacht, sondern nur verziehen werden.“
Persephone ist unverziehn und unbeliebt geblieben. Sie wird so gut wie nie aufgeführt und war bislang auf Schallplatte nicht zu haben. Die brandneue Einspielung mit Kent Nagano beweist mit Bravour, daß wieder einmal ein sogenanntes Urteil der Geschichte nur höchstens zur Hälfte gerecht war: Kitsch is a beautiful word. Mit Präzision zelebrierter Kitsch kann eine Offenbarung sein.
Gioacchino Rossini: Kammermusik. Ex Novo Ensemble. Giulia GS 201001.
Sünden des Alters. Eine melancholische Melodie steigt unisono aus dem Piano auf, Pause. Steigt leicht kirchentonal geduckt wieder abwärts. Pause und abermals Pause. Aber wenn endlich das Cello dazukommt, dann ist der Tränenstrom für gut zwölf Minuten nicht mehr zu stoppen und gräbt sich breit sein Bett durch die wunderlichsten Harmonien und schmeichelhaftesten Ariosi.
Une larme, Thème et Variations: Das ist eines der vielen Glanzstücke aus denPéchés de vieillesse, jener privaten Sammlung an Salon- und Gelegenheitskompositionen, die sich Gioacchino Rossini selbst zum Vergnügen schrieb, als er ein alter Mann und von der öffentlichen Bühne längst abgetreten war. Aber auch schon als junger Spund hat Rossini (außer monatlich mindestens einer Erfolgsoper, wie das landläufige Vorurteil weiß) eine ganze Menge bemerkenswerte Kammermusik komponiert. Zum Teil witzig, zum Teil triste — aber in jedem Falle unglaublich virtuos; und so liebevoll genau und engagiert, wie das Ex Novo Ensemble sich hier hineingestürzt hat, eine Lust für Hörer aller Fakultäten. Die Bläservariationen aus dem Jahr 1812 zum Beispiel wären eine herrliche Sonntagsmorgen-Frühstücks- Musik. Die Träne ist, wie gesagt, ganz das Rechte gegen leichte Depressionen abends allein in der Sofaecke. Die Serenata (1823) oder die Elegie für Violine und Klavier, genannt Ein Wort an Paganini, sorgen für gute Laune zu jeder Tageszeit.
Diese Musik hat wie von selbst viele Freunde. Es wären mit ihr sicherlich glänzende Geschäfte zu machen, wenn der deutsche Plattenmarkt sich darum kümmern würde. So muß man, wenn man im Rossini- Jahr Neues von Gioacchino Rossini hören will, nach italienischen Produktionen wie dieser hier (auf dem neuen Label Giulia) fahnden. Gesucht, gefunden und wahrhaftig: ein Muß.
The last Castrato: complete Vatican recordings.
Alessandro Moreschi (Sopran). Opal 823, Pearl Records East Sussex.
Quetschung Als Richard Wagner vor hundertdreiunddreißig Jahren seinen Anstandsbesuch bei Gioacchino Rossini in Paris absolvierte, da tauschten die beiden jene besondere Sorte Höflichkeiten miteinander aus, bei denen sich die Balken biegen. Unter anderem mußte sich der Schöpfer des Bühnenweihfestspiels von dem Beherrscher aller Belcantogläubigen sagen lassen, die „Gesangskunst“ sei sowieso schon längst „zugrunde gegangen“ — und zwar, so Rossini, wegen „des Verschwindens der Kastraten“. Es dauerte dann doch noch ein gutes Menschenalter, bis wirklich und wahrhaftig der allerletzte Kastrat verschwunden war. Denn die päpstliche Kurie, die bekanntlich besondere Sorge sowohl um das ungeborene wie um das verbogene Leben trägt und seit dem 16.Jahrhundert höchst diplomatisch mal das Verschneiden kleiner Knaben verboten, mal den Kastratengesang zur Ehre Gottes gutgeheißen hatte, ließ diese bedauernswerten Paradiesvögel, nachdem sie 1850 von den weltlichen Opernbühnen hatten abtreten müssen, noch lange weiterdienen.
Alessandro Moreschi, Starsopran des Vatikan, starb im Jahre 1922. Er war der erste, der letzte und einzige Kastrat, dessen Stimme auf Tonträger gebannt wurde. Die siebzehn einmaligen Aufnahmen, die ein Team der Grammophone Company 1902 und 1904 mit Moreschi und dem Chor der Sixtinischen Kapelle gemacht hat, werden als Evergreen vertrieben von der britischen Firma Pearl/Opal. Abgesehen von dem Sensationsindex ist der musikalische Genuß allerdings reichlich trübe. Moreschis berühmte Stimme eiert, daß es selbst Gott erbarmen möchte. Sie pirscht sich von unten heran an die Spitzentöne, wackelt bedenklich in der Höhe und schmiert dann wieder unvermutet ab. Das hat aber ganz offenkundig nichts mit Not oder Mühe zu tun. Moreschi, genannt „der Engel von Rom“, erreicht, was er will mit federnder Leichtigkeit und schönem Schmelz, der auch in den tieferen Registern und bei leisen Stellen nicht verloren geht. Was uns daran befremdet und wie eine Karikatur in den Ohren klingt, das ist nicht die Stimmlage. Das sind Moreschis altmodische Verzierungstechniken und vor allem ein Tonansatz, der zu seiner Zeit als der Gipfel emphatischer Gesangskunst galt: insbesondere das in Anlehnung an eine instrumentale Technik „Acciacatura“ (Quetschung) genannte Sich-Hinaufschaufeln auf jene Töne, die besonderer Inbrunst bedürfen. Und daswaren beinahe alle.
Richard Wagner übrigens hatte den Vorgänger Moreschis, den berühmten päpstlichen Kastraten Domenico Mustafa, ursprünglich vorgesehen für die Rolle des Klingsor – im Parsifal — woraus bekanntlich nichts geworden ist.
Die Kunst der Kastraten: Kantaten, Arien und Canzonette von Pasqualini, Rossi, Melani, Landi und Benedetti.
Rosina Sonnenschmidt (Sopran), Sephira Ensemble Stuttgart. Bayer Records BR 100 062 CD.
Liebe. Die Gesangstechnik der Kastraten zu ihrer Blütezeit im 17. Und 18. Jahrhundert war wiederum ein ganz anderes Kapitel. Viel Wissenswertes über Stimmumfang, Geläufigkeit, Atemtechnik, Koloraturen, Klangfarben und Stilideal ist nachzulesen in dem außerordentlich informativen Booklet dieser CD mit der Sopranistin Rosina Sonnenschmidt. Sie hat übrigens die Begleit-Texte selbst verfaßt. Denn Sonnenschmidt ist nicht nur stimmlich spezialisiert auf die Gesangstechniken des Frühbarock, sondern auch im weitesten Sinne mit den historischen Hintergründen vertraut: der Idealfall eines Musikers, der zugleich Musikologe ist.
Was sich zum Beispiel wohltuend auswirkt auf die Werkauswahl des Ensemble Sephira. Sonnenschmidt sucht weit abseits von den ausgetretenen Trampelpfaden nach verschollener und vergessener Musik. Auf dieser Platte singt sie sich durch eine Blütenlese von weltlichen Kompositionen berühmter Kastratensänger, die im Dienste der katholischen Kirche standen — sämtlich Seltenheiten, die sonst nirgendwo zu hören sind: galante Solokantaten, die affektreich vom wichtigsten Allerweltsproblem handeln, das offenbar auch Kardinäle und Kastraten in ihrer Freizeit stark beschäftigt hat: von Liebe, Liebe, Liebe.
Die meisten dieser Stücke sind sehr virtuos und verlangen einen langen Atem. Sonnenschmidt hat zwar keine sonderlich große Stimme, aber dafür einen ausgezeichneten Sinn für Pointen und eine ausgereifte Technik. Sie singt angenehm unprätentiös, schlank und exakt: ohne falsches Geschnörkel trifft sie genau den Tonfall künstlicher Natürlichkeit, den diese Musik braucht. Von der Anstrengung, die das erfordert, ist selten etwas zu merken, und das auch nur, weil die Aufnahmen völlig unlackiert sind und die Mikrophone so gerichtet, daß, wie man so schön sagt, „jede Plombe zu hören ist“. Diese Sängerin weiß nicht nur, wie — sie weiß auch, was sie singt.
Hasse, Händel, Gluck, Mozart, Rossini, Donizetti:
Opernarien. Jochen Kowalski (Alt), Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Heinz Fricke. Capriccio 10 416.
Kowalski. Jochen Kowalski ist eine Sensation. Kein gewöhnlicher Counter-Tenor, sondern ein echter männlicher Alt: er singt nicht kunstvoll falsettierend mit Kopfstimme, er singt volles Rohr, mit dem ganzen Volumen des männlichen Brustkastens, aber in hoher weiblicher Lage von f bis f''. Das ist gewissermaßen ein Wunder der Natur und muß, nach allem, was man weiß, dem authentischen Klang der Kastratenstimme ziemlich nahe kommen.
Wie kürzlich im FAZ-Magazin zu lesen war, ist „das Geheimnis“ Kowalski bereits Gegenstand medizinischer Forschung gewesen und noch „nicht ganz gelüftet“ worden. Vermutet wird, daß eine frühe Hirnhautentzündung das Wachstum des Kehlkopfs verhindert haben soll. Gesichert dagegen ist das musikalische Kapital, das sich aus dieser Jahrhundertstimme schlagen läßt. Das allerneueste Kowalski- Album präsentiert den Star im großen Glanz der schönsten Opernarien, die je für Kastraten komponiert wurden: strahlend klar die schnellen Koloraturen, ehrfurchtgebietend die Power beim An- und Abschwellen der ganz langen, langsamen Töne (messa di voce), vollendet die Intonation. So glatt, so gleichmäßig, so wunderschön: das ist Kowalski. Besser gesagt: Kowalski ist der Traum vom Belcanto. Man kann sich hemmungslos daran besaufen. Man darf sich aber auch ob so viel glatten Ebenmaßes nach einer kleinen Weile ein bißchen langweilen. Die Aufnahme ist dezent auf Hochglanz geliftet mit leichtem Hall.
Richard Barone: Clouds Over Eden. Line LICD 9.01100.
Déjà vu. Jeder einzelne Song auf diesem dritten Solo-Album von Richard Barone (vormals „Bongos“) kriecht so vertraut ins Ohr, als wäre er schon seit Jahrzehnten ein guter Freund. Das liegt zunächst daran, daß Barone genau die Stimme hat, die von Rechts wegen das Enkelkind von Paul McCartney haben müßte. Daß er sie genauso hitgerecht kultiviert und aufblühen läßt in gebrochenem Dreiklang und schlichten Terzgängen, daß er sie gleichfalls gekonnt umschlagen lassen kann ins Falsett und klassisch zu grundieren weiß mit weichen Bläsern und lieblichem Streichquartett. Außerdem macht Barone schamlos Gebrauch vom Beat der frühen Jahre — sogar die Texte dazu treffen exakt jene konstruktive Mischung aus Palastrevolution und pubertärem Pathos, die vor gut zwanzig Jahren massenhaft die Charts bevölkert hat. Da der Popmarkt augenblicklich sowieso mindestens zur Hälfte bestückt werden muß mit nostalgischen Oldie-Neuveröffentlichungen: Was spricht da gegen ein geballtes Bündel perfekter Ohrwürmer, neu erfunden im stile antico? Nichts. Im Gegenteil. Denn Richard Barone ist alles andere als billiges Imitat. Und nehmen wir mal an, die späten Sechziger und frühen Siebziger waren wirklich die Klassik und wir befinden uns jetzt in einer Phase der Restauration: Da muß man sich doch freuen über jedes déjà vu.
150 Jahre Wiener Philharmoniker. Jubiläumsedition. DG 435 322-329/435 332-334.
Lektionen. Das Kyrie in der Missa Solemnis zieht sich wie Kaugummi in die Länge, dafür donnert danach das Gloria drein, als ob es mehrere Reichsparteitage gleichzeitig zu feiern gelte: wenn Clemens Krauss Beethoven dirigiert, dann machen die Wiener Philharmoniker nicht Musik — dann klotzen sie Monumente. Und legen, sobald sie einen titanischen Block fertigbehauen haben, vor lauter heiliger Ergriffenheit erst mal eine Gedenkpause ein. Ganz anders spielen sie unter Otto Klemperer: Da geht Beethovens Fünfte kühl analytisch über die Bühne des Wiener Musikvereins, jede Stimmführung für sich deutlich und direkt. Wieder wie ein anderes Orchester klingen die Wiener, wenn Wilhelm Furtwängler am Pult steht: dynamisch die dritte Leonoren-Ouvertüre, hochdramatisch die Neunte und erst recht die Große Fuge op. 133 (in der Bearbeitung von Felix Weingartner), die alle kammermusikalische Sprödigkeit abgelegt hat, sinfonisch überschäumend zu großartigen Spannungskurven aufläuft und dabei zweimal beinahe völlig aus den Fugen geht.
Zwanzig Live-Konzertmitschnitte unter zehn Dirigenten aus 36 Jahren Aufführungsgeschichte — diese auf zwölf CD konzipierte Jubiläumsausgabe der Deutschen Grammophon zum 150jährigen Bestehen der Wiener Philharmoniker ist alles andere als eine gewöhnliche Festgabe, die nur an die Highlights erinnert. Es ist ein Lehrstück in mehreren Lektionen zur Interpretationsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, bei dem man die Ohren anlegen muß. Die erste spannende Lektion ist zu hören, wie chamäleonartig flexibel ein Spitzenorchester sein kann. Die zweite, daß zwischen diesen Aufnahmen nicht nur Jahre, sondern Welten liegen.
Clemens Krauss zum Beispiel, der zunächst von 1930 bis 1933 als Nachfolger Furtwänglers die Abonnementskonzerte geleitet hatte und in Unfrieden aus dem Amt schied, unter anderem weil der Vorstand der Wiener Philharmoniker lieber den aus Deutschland verjagten Bruno Walter an seiner Stelle gesehen hätte — er kehrte 1939 nach dem Anschluß Österreichs triumphal zurück ans Pult. Und selbst, wenn man davon nicht wüßte: seine bleierne Interpretation der Missa, aufgenommen 1940, zeugt nicht nur von einer verstaubten musikalischen, sondern auch von einer, gelinde gesagt, prekären musikpolitischen Haltung. Klemperer dagegen, wie Walter ein „Vertriebener“ des Nazi-Regimes, hat das hier dokumentierte Konzert 1968 als Gastdirigent nach seiner Rückkehr aus dem Exil gegeben — es ist eines seiner letzten, ein gewissermaßen abgeklärtes Alterswerk.
Auch Bruno Walter ist in dieser Edition vertreten (mit Mahlers Vierter und Mozarts „Prager“ 1955); selbstverständlich auch Richard Strauss (mit Wagner und eigenen Werken), sowie Herbert von Karajan, Karl Böhm, Carl Schuricht, Hans Knappertsbusch und Leonard Bernstein. Das listet sich leicht auf und birgt doch eine Fülle an Merkwürdigkeiten, die jede für sich ein eigenes „Scheibengericht“ wert wären. Die dritte Lektion wäre, in Erfahrung zu bringen, wie sinnvoll entlarvend ein Live-Mitschnitt sein kann und wie dummdreist verfälschend oft die pseudoperfekten Studioaufnahmen, an die unsere Ohren heute so bequem gewöhnt sind. Damit sei nicht gesagt, daß aufnahmetechnische Patzer oder spieltechnische Schludrigkeiten (wie etwa in den Mitschnitten der Strauss-, Böhm- und Knappertsbusch-Konzerte) als besonders authentisch auch sonderlich genießbar wären. Live-Aufnahmen sind nie etwas für Puristen. Aber alle fangen ein Stück einmalige historische Situation, eine lebendige Konzertatmosphäre mit ein: und das kann dann eine Sternstunde sein oder auch Alltagsroutine, je nachdem.
Kaum zu glauben zum Beispiel die jüngste Aufnahme mit dem Wunder Karajan, der bei Bruckners Neunter (1976) nur gerade eben mal null-acht-fünfzehn seine Hausaufgaben gemacht hat. Wie ein blaues Wunder wirkt dagegen die wild romantische Hingabe, mit der Leonard Bernstein im Jahre 1971 Haydns B-Dur-Sinfonie No.102 hat gegen den Zopf bürsten lassen: dagegen können selbst die vielgerühmten und wirklich hervorragenden neuesten Einspielungen der Academy of Ancient Music (mit Christopher Hogwood auf L'Oiseau-Lyre) nicht an.
Ein letztes Wort noch zum Anti- Repertoire dieser gelungenen Anti- Jubel-Feier: Krauss spielt auch Strawinsky und Dukas (ganz gut), Böhm spielt Schönbergs Pelleas & Melisande (nicht so gut).
Lieder aus zehn Jahren Trio.
Erika Pluhar (Gesang), Peter Marinoff (Gitarre), Antonio D'Almeida (Klavier). E. T. E. Ex 145.
Ins G'miet. Eine Diseuse muß nicht singen können. Aber eine Schauspielerin sollte wissen, wie man mit Atem umgeht. Erika Pluhar kann nicht singen, dafür schnauft sie laut nach jedem Satz. Auch das wäre halb so schlimm, wenn bloß diese Sätze nicht wären! Der hier zum Beispiel: „Wie im Lauf dieser Welt unser Dasein zerfällt.“ Oder dieser: „Ich möchte alles neu, nicht alles so vorbei, verklungen jeder Schrei.“ Oder, oh weh: „Der Hunger auf der Welt greift einem ins Gemüt, wem er nicht schadet, das ist unser Appetit.“ In Wien, wo sich ü auf i reimt, mag man das für Poesie halten. Überhaupt, eines muß man Pluhars Lyrik lassen: sie reimt sich immer pünktlich am Ende.
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