ESSAY
: Am Scheideweg

■ Nur völlig neue Wege sichern den Volksparteien das Überleben

Das Modell der Volkspartei war im Deutschland der Nachkriegszeit außerordentlich erfolgreich. In keinem westeuropäischen Land mit Verhältniswahlrecht hat sich ein vergleichbares Parteiensystem herausgebildet, das wie in Deutschland durch zwei große Parteien — CDU und SPD — bestimmt wird. Im Bund wie in den Ländern hatte eine der großen Parteien in der Regel allein oder mit einem kleineren Koalitionspartner zusammen eine bequeme Regierungsmehrheit. Das hat sich durch das Entstehen neuer Parteien geändert. Als erste bekam dies die SPD zu spüren, denn es waren vor allem enttäuschte SPD-Wähler, die sich den Grünen zuwandten. Die Existenz der Grünen hat es der SPD praktisch unmöglich gemacht, in Zukunft noch einmal eine „strategische Mehrheit“ zu gewinnen.

Die Grünen sind die erste Partei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die es schaffte, sich trotz Fünf-Prozent-Klausel dauerhaft im Parteiensystem zu etablieren und dieses damit nach links zu erweitern. 1994 bei der Bundestagswahl und bei den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern wird sich entscheiden, ob es den Reps gelingen wird, sich rechts von der Union zu etablieren und damit auch der Union die Möglichkeit zu nehmen, in Zukunft noch „strategische Mehrheiten“ zu gewinnen. Im Superwahljahr 1994 entscheidet sich, ob das deutsche Parteiensystem der Nachkriegszeit, das wesentlich zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands beigetragen hat, zu Grabe getragen wird. Die FDP ist dann nicht mehr der alleinige Mehrheitsbeschaffer. Ampelkoalitionen — in welcher Farbkombination auch immer — werden zukünftig keine Seltenheit mehr sein. Damit würde der politische Einfluß der FDP auf das ihr eigentlich zustehende Maß zurückgestutzt werden.

Daß die Volksparteien in der Krise seien, ist schon oft behauptet worden. Nun sind die Krisensymptome nicht mehr zu übersehen: Rückgang der Mitgliederzahlen, zunehmende Politik- und Parteienverdrossenheit, Abschleifen der Hochburgen, Austrocknen der klassischen Stammwählermilieus von SPD (Arbeiter) und Union (Katholiken), Rückgang der Wahlbeteiligung, nachlassende Bereitschaft zum parteipolitischen Engagement, nachlassende Parteibindungen und zunehmendes Wechsel- und Protestverhalten der Wähler. Der Bedeutungs- und Wählerverlust der beiden großen Volksparteien ist zurückzuführen auf den radikalen Wandel der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für politische Parteien. Drei Entwicklungstrends möchte ich hervorheben:

— Die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft führt zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung gegensätzlicher Interessen, Meinungen, moralischer Imperative und Lebensstile. Eine schichtenübergreifende, alle Wähler umfassende und integrierende Volkspartei wirkt da beinahe anachronistisch.

— In saturierten Mittelschichten haben die klassischen Ideologien und Rechts-Links-Schemata keine Überlebenschance. Radikale Ideologien, Weltanschauungen und Prinzipien in der Politik wirken deplaziert und abgestanden. Sie sind nur etwas für Minderheiten. Worüber könnten Volksparteien heute noch prinzipiell streiten? Der Wähler muß bei den Parteien schon ziemlich genau hinschauen, um Unterschiede feststellen und bewerten zu können. Aber wer macht sich noch diese Mühe? Wahlentscheidungen fallen immer stärker anhand vordergründiger Kriterien und Gesichtspunkte. Unter den viel zitierten Wechselwählern gibt es ja nicht nur nüchtern abwägende und prüfende, sondern auch diejenigen, die erst wenige Wochen vor der Wahl aufgrund aktueller Ereignisse und Stimmungen über ihre Stimmabgabe entscheiden. Damit wird die mediengerechte Inszenierung von Politik, unter anderem kurz vor Wahlen, immer wichtiger für den Wahlausgang. Der Amerikanisierung des Fernsehens wird die Amerikanisierung der deutschen Politik und des Wahlkampfs folgen.

— Drittens: Der Zusammenbruch des Sozialismus hat der SPD die Utopie und der CDU den Gegner genommen. Antikommunismus als politischer Kitt für Unionswähler fällt künftig aus. Alte Fragen, von denen man glaubte, sie seien längst beantwortet, stellen sich für die großen Volksparteien wieder neu: Wie kann man den Vormarsch des angepaßten Politik-Technokraten stoppen? Müssen wir zurück zum Modell der früheren Honoratioren-Partei bei der Auswahl von Mandats- und Amtsträgern (Seiteneinsteiger)? Muß man mangels Masse Abschied nehmen von der Idee der mitgliederstarken Volkspartei? Geht bei den Mitgliedern künftig Klasse vor Masse? Ist die für Deutschland typische Parteiorganisation aus dem 19.Jahrhundert auch im Jahr 2000 noch überlebensfähig? Werden künftig in der Partei die Ehrenamtlichen immer weniger, die bezahlten Parteimitarbeiter und die Abgeordneten immer mehr zu sagen haben? Sollten Parteien nicht mehr auf die Wähler als auf die Mitglieder hören, weil letztere von der Gesellschaft abgekoppelt sind?

Die Volksparteien stehen vor einem Modernisierungsdruck. Nur wenn sie ihre Defizite radikal offenlegen und auch bereit sind, völlig neue Wege zu gehen, werden sie die neunziger Jahre überstehen. Wulf Schönbohm

Politikberater in Baden-Württemberg, pol. Publizist, ehemaliger Mitarbeiter von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler in der CDU-Bundesgeschäftsstelle; siehe auch den Beitrag von Antje Vollmer in der taz vom 21.5., Seite 14: „Wider den Populismus; die Parteien in der Krise“