Scheißpublikum

Der Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Eberhard Schlotter: Zwei Künstler in Verdammnis verdammen die Um- und Nachwelt  ■ Von Gregor Strick

Es war eine Nacht- und-Nebel-Aktion: Helfer wurden organisiert, Kisten und Koffer eilig gepackt und mitsamt dem Hausrat und dem — später berühmten — Tandem auf einen kleinen Lkw geladen, im Fahrerraum der Katzenkäfig und der Koffer mit den Manuskripten; nach hastigem Abschied von Nachbarn und alten Wegen erfolgte die Flucht.

So verließ am 24.September 1955 das Ehepaar Arno und Alice Schmidt Kastel bei Saarburg im konservativen Gerichtsbezirk Trier, innerhalb dessen Schmidt eine Gefängnisstrafe wegen Gotteslästerung und Pornographie drohte — anläßlich der Veröffentlichung der Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas, die heute zu den Standardwerken der neueren Literatur zählt. Begleitet wurden die Schmidts von Ernst Kreuder und Eberhard Schlotter, dem damaligen Präsidenten der Darmstädter Malersezession. Der Umzug der Schmidts in das liberalere Darmstadt war auf die Initiative Schlotters hin geschehen. Schlotter nahm das verstörte Schriftstellerpaar fürs erste in seinem Haus auf und half tatkräftig bei der Wohnungssuche.

Dies war der Anfang einer Freundschaft, die fast 25 Jahre — bis zu Schmidts Tod — währte. Schmidts und Schlotters Freundschaft und Zusammenarbeit ist durch einen umfänglichen Briefwechsel dokumentiert, den die Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld unter der Redaktion von Bernd Rauschenbach als BandIII der auf acht Bände und einige Unterbände geplanten Schmidt- Brief-Edition herausgegeben hat. (Ins Haus stehen zum Beispiel noch die Korrespondenzen mit Wollschläger, Böll und Heißenbüttel.) Der Band beinhaltet die gesamte erhaltene Korrespondenz zwischen Schmidt und Schlotter und einige Briefe von und an Alice Schmidt und Dorothea Schlotter. Die Brieftexte sind mit sorgfältigen Einzelkommentaren, vielen Fotos, schönen Brief-Faksimiles und Auszügen aus den Tagebüchern versehen; die Ausstattung des Bandes befriedigt ohne weiteres bibliophile Ansprüche. Allerdings handelt es sich um eine „kastrierte“ Edition; aus Rücksichten gegen noch lebende Personen wurden leichte Kürzungen vorgenommen.

Von den 194 Briefen, Postkarten und Telegrammen sind nur 53 von Schmidt selbst. Vor allem die Briefe der ersten Freundschaftsjahre zeigen ihn „at his best“, auf gut Schmidtsch mit Sprache und Form des Briefs experimentierend. Auch die phantasievollen, metaphernkräftigen Briefe Schlotters haben nicht selten literarische Qualitäten, wobei Schlotters bildhafter Stil eindeutig vom Medium des Malers, dem „Malerauge“ bestimmt ist.

Die Briefe geben Auskunft über biographische Fragen; man erfährt etwa die Gründe für das Scheitern des Schmidtschen Vorhabens, nach Irland auszuwandern. In den einzelnen Lebensgeschichten wird Zeitgeschichte sichtbar; gerade in der Korrespondenz der fünfziger und frühen sechziger Jahre wird der Zeitgeist deutlich, das repressive geistig-politische Klima der Adenauer-Ära, die Strapazen des Wirtschaftswunders, die mühevolle Restauration des Bürgertums in der Nachkriegszeit. Anekdotenhaft und meist in Form der Realsatire erhält man darüber hinaus Aufschlüsse über die Kulturszene, ihren Konformismus, ihre Ignoranz, ihre Oberflächlichkeit, ihren Hang zu Intrigen. Dies alles tritt besonders in Schlotters Berichten über seine Erlebnisse mit Ausstellungsmachern, Sponsoren und dem „Scheißpublikum“ hervor.

Spätestens bei der Lektüre der zeit- und kunst- beziehungsweise kulturbetriebskritischen Äußerungen der Briefe wird klar, auf welchem Standpunkt Schmidt und Schlotter stehen: auf dem des Außenseiters, des radikalen Nonkonformisten, der sich keiner Partei, keiner Gruppe, keiner Mode verschreibt. Die Sicht- und Erlebnisweise des Außenseiters, seine kritische Wahrnehmung, seine Empfindlichkeiten und Nöte, zieht sich durch sämtliche Briefe.

Schmidts und Schlotters Briefe führen zwei Künstler vor, die sich über die Spielregeln einer „modebewußten Kunstdiktatur“ hinwegsetzen und sich bei diesem Drahtseilakt gegenseitig die nötige Ermutigung zusprechen. Die Briefe der beiden bekommen von daher etwas Kampfschriftartiges. Sie erzählen außerdem in beispielhafter Weise die Geschichte, wie das Establishment unliebsame Künstler malträtiert (und schließlich, wenn ihr Erfolg nicht mehr unterdrückt werden kann, mit Preisen eindeckt). Schlotter wird bei der Vergabe von Lehraufträgen benachteiligt, um Gehälter geprellt, von Malerkollegen geschnitten und einmal mit dem Argument „Wir bekommen die Gelder von der Bundesregierung“ von einer Ausstellung ausgeschlossen. Schmidt, der erst in den Siebzigern zum Grand Old Man der Literatur avancierte, machten bis dahin unter anderem die Rechtspresse, gerichtliche Verfahren und, im Falle des Zeitromans Das steinerne Herz, die politische Zensur seines Lektors das Leben schwer. 1955 mußten die Schmidts den offenen Gesinnungsterror ihrer Heimatgemeinde erleben: Weil der Pfarrer von der Kanzel verkündet hatte: „Man darf dem Teufel (das heißt, dem Atheisten Schmidt) nichts zu essen geben“, mußten Arno und Alice Schmidt zum Einkaufen in den 15Kilometer entfernten Nachbarort radeln. In den Briefen findet sich auch, offen ausgesprochen, die Erklärung für die letztendliche politische Resignation Schmidts und Schlotters: die Wirkungslosigkeit ihres aufklärerischen Engagements.

Doch Schmidts und Schlotters Korrespondenz, die Schlotter einen „Dialog zwischen dem Schriftsteller und dem Maler“ nennt, ist noch mehr als ein Dokument verschiedener Mentalitäten, Biographien und Zeitläufe. Sie ist auch das Zeugnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit eines Bild- und eines Wortkünstlers. Schlotter bringt die Ursache der gegenseitigen Sympathie auf den Punkt: „Du wolltest Optisches, Linie plus Farbe — ich wollte Worte, gesagte, geschriebene, begierig sie zu erfahren, zu benutzen — wir waren uns einig.“ Schlotter, der zahlreiche Illustrationen zum Werk und zur Person Schmidts verfertigt hat und die Gemeinschaftsarbeit Das zweite Programm, eine Kombination von Text und Bild, angeregt hatte, sieht sich dabei als den Nehmenden, als den, der bereit war, aus Schmidts „Wortwelten zu lernen, um sie in bild-künstlerische Gesetze zu verwandeln“. Dieser Lernprozeß trug für Schlotter hauptsächlich in der Werkphase der sechziger Jahre Früchte, als er, Schmidts weitläufiger Freud-Rezeption folgend, eine Malerei praktizierte, die den Erfahrungen des Es in der Sprache des Traumes Ausdruck verleihen sollte. Andererseits wurde Schmidt von Schlotters Werken zu einer ganzen Reihe eigener Produktionen veranlaßt. Die Briefe zeigen in wunderbarer Unmittelbarkeit den Funken der Inspiration, der von einem Werk, von einer Person auf die andere überspringt, den Ideenaustausch, die gegenseitige kreative Anregung im Moment ihrer Wirkung.

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Eberhard Schlotter. Mit einiger Briefen von und an Alice Schmidt und Dorothea Schlotter. Hrsg. von Bernd Rauschenbach, Haffmans Verlag, gebunden, mit Abb., 120DM.