Einer zuviel im Boot

■ „Snatched by the Gods“ von Param Vir bei der Münchner Biennale uraufgeführt

Stahlplatten und Bretterwände umgrenzen klar den Bühnenraum. Am Boden schwarzer Sand — das ist das Meer, darüber hängt ein hölzernes Floß, auf dem sich die Darsteller zusammendrängen. Die Musiker sitzen abseits des Geschehens.

Schüchtern piepst die Pikkoloflöte ihren Quintsprung zum „cis“, ebenso verhalten, aber nicht mehr so unbefangen, fällt sie zum „fis“ zurück. So verbindet Param Vir Anfang und Ende seiner Oper. Sie handelt von einer Gruppe indischer Pilger, die zu einem religiösen Fest an die Mündung des Ganges fahren wollen und dabei in Seenot geraten. Mit einem kleinen Boot soll die waghalsige Tour übers Meer unternommen werden. Rakhal will auch mit, obwohl er noch viel zu jung und das Boot ohnehin schon überbesetzt ist. Deshalb wird sein Ansinnen erst einmal abgelehnt. Schließlich läßt sich der Pilgerführer Maitra durch den flehenden Gesang des Buben (Neel Saglani) doch breitschlagen und nimmt ihn mit. Die Mutter des Jungen gerät darüber derart in Rage, daß sie ihr Kind verflucht. Obwohl sie sofort bereut, behält der Bannspruch seine Wirkung: Der Bub wird am Ende ins Meer geworfen, um die stürmischen Wogen zu glätten. Kleingläubig zittern die Pilger um ihr Leben und opfern dafür ein anderes, das des Schwächsten.

Tagore schrieb diese Gedichtparabel, die William Radice zum Libretto umgearbeitet hat. Herausgekommen ist ein lebendiger Text, der den lyrischen Ton bewahrt, ohne sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Handlungsstränge und Rollen wurden klug disponiert, um aus dem ursprünglichen Erzählduktus ein dramatisches Geschehen zu entwickeln. Beste Voraussetzungen also für den Komponisten, der sich dem Text mit großem Einfühlungsvermögen näherte. Da wird nichts plump bebildert, es werden auch nicht einfach Buchstaben vertont, wie man es in den letzten Wochen oft hören mußte. Statt dessen arbeitet Param Vir mit einprägsamen melodischen und rhythmischen Formeln, verbindet sie zu einem ruhigen Erzählfluß. Überraschende Forte-Einschübe sind wirkungsvoll plaziert. Sowohl Solorezitative als auch die kontrapunktisch verschlungenen Chorsequenzen besitzen eigene musikalische Aussagekraft, sie sind nicht auf permanente Unterstützung durch den Orchesterapparat angewiesen. Der akzentuiert und kontrastiert den Gesang, und auch hier zahlt sich die Sparsamkeit der Mittel aus. Die Instrumente behalten ihren Eigenwert, selten werden sie zu größeren Klangballungen aufgeschichtet. Erst wenn die Wellen über dem Boot zusammenschlagen, dann trumpft das Orchester auf mit Drohgebärden.

Mit fatalistischer Sturheit stellt es sich der verzweifelten Moksada entgegen, hervorragend dargestellt und gesungen von Katherine Ciesinksi, der Darstellerin der Mutter. Das waren eindringliche Szenen.

Ausgezeichnete Sänger und Instrumentalisten haben sie ermöglicht: in den Hauptrollen Michael Lewis als Maitra, Katherine Ciesinksi als Moksada, Neel Saglani als Rakhal und Cynthia Buchan als Annada. Mit bewundernswerter Präzision und Spielfreude musizierte das „Asko Ensemble“ unter Leitung von David Porcelijn. Das erlebt man bei zeitgenössischer Musik nicht allzu oft.

Die Inszenierung von Pierre Audi überzeugte in ihrer halbnaturalistischen, in sich stimmigen Art. Bei relativ geringem Materialaufwand und einer schlichten und sinnvollen Personenregie entwickelte Pierre Audi stringente Handlung und ausdrucksstarke Charaktere. Die Sängerinnen und Sänger, einschließlich des jungen Saglani, zogen da mit.

Mit Snatched by the Gods — Von den Göttern verschlungen — gelang eine der bisher überzeugendsten Darbietungen auf der 3. Münchner Biennale. Helmut Mauró