DEBATTE
: Nach Maastricht

■ Plädoyer für eine sofortige gesamteuropäische Gemeinschaft

Auch die Europäische Gemeinschaft der Zwölf ist gefordert, auf die Auflösung des Ostblocks zu reagieren. Es darf nicht darum gehen, was in Maastricht beschlossen wurde. Statt dessen sind sofort Verhandlungen mit allen dazu bereiten Staaten Europas über den Beitritt in die Gemeinschaft aufzunehmen. Die nicht ausreichende wirtschaftliche Entwicklung darf nicht als Grund herhalten, beitrittswillige Staaten abzuweisen. Die EG muß vielmehr gesamteuropatauglich gemacht werden, indem sie grundlegend reformiert wird und wesentliche ihrer Mängel behoben werden. Das Modell der abgestuften Integration zeigt dafür Wege auf.

Historisch zwingende Ausweitung der EG

Trotz der abweisenden Signale aus Maastricht werden Polen, Ungarn und die CSFR, jetzt Staaten mit demokratischen Strukturen und marktwirtschaftlichem System, noch 1992 von dem in Artikel 237 EWG-Vertrag verbrieften Recht auf Beitritt Gebrauch machen. Diese Anträge wegen ihres wirtschaftlichen Entwicklungsrückstandes zurückzuweisen oder auf die lange Bank zu schieben, wäre moralisch unverantwortlich und politisch kurzsichtig. Eine neue Teilung Europas in Reich und Arm, in Konsum- und Mangelgesellschaften, ein solcher Nährboden für die neuen Nationalismen kann nicht das Zukunftsbild Europas sein.

All die scheinbar guten Gründe gegen die Erweiterung sind nur für die zwingend, die von der EG jetzt profitieren und eine Reform verhindern wollen. Es erweist sich aber, daß die überfällige Reform und die Erweiterung der EG die beiden Seiten ein und derselben Medaille sind. Denn nichts anderes als grundlegende Fehler der EG selbst stehen weiteren Beitritten entgegen.

Walze der Handelsfreiheit

Da ist einmal die Handelsfreiheit, die zu einem sofortigen Kollaps der Wirtschaft in Staaten mit niedrigerem wirtschaftlichen Produktionsniveau führen würde. Westeuropäische Produzenten würden die neuen Absatzmärkte usurpieren und die nicht wettbewerbsfähigen Produktionsstrukturen in den neuen Mitgliedsstaaten zerschlagen. Das wäre Kohls Deutschlandpolitik für Europa. Daß mit Transferleistungen dann nichts mehr zu flicken ist, muß nicht erst durch das Modell Deutschland nachgewiesen werden. Schon jetzt funktionieren in der EG die Regional-, Sozial- und Kohäsionsfonds in den benachteiligten Regionen nur wie Gießkannen in der Wüste.

Was der Gemeinsame Markt, jetzt: Binnenmarkt, nicht stark gemacht hat, fällt weiter ab. In den zehn ärmsten Regionen der EG wird inzwischen weniger als ein Drittel verdient als in den zehn reichsten (Bericht der EG-Kommission). Wer hier Ursachen bekämpfen will, der überdenkt den Stellenwert der Handelsfreiheit im Integrationsprozeß. Ob holländische Tulpen in Bayern oder bayerische Milch in der Toskana mehr Freude bringen als die Geschwader von Lastkraftwagen Leid verursachen, ist doch wohl längst die Frage.

Also, das Verursacherprinzip konsequent anwenden! Nicht der soll die Nase vorn haben, der möglichst viel der Folgekosten seiner Produktion (Transport, Verpackungsmüll) der Allgemeinheit auflastet. Hier könnte das Dumpingverbot der EG greifen. So mancher Gütertransport, so manche Wirtschaftskonzentration würde dann bei voller Handelsfreiheit unterbleiben, so manche lokalen oder regionalen Produktionsstrukturen blieben erhalten.

Die Handelsfreiheit darf nicht andere Anliegen, etwa die Sozialpflichtigkeit oder den Umweltschutz, niederwalzen. Mitgliedsstaaten, auch Regionen — und auch Kommunen — müssen Regelungen erlassen können, die handelshemmende Wirkungen haben mögen, wenn sie zur Wahrung dieser Anliegen erforderlich sind. Etwa so wie die Kommunen in den USA, die mit Billigung des Supreme Court für ihr Gemeindegebiet Verbote für PCP-haltige Hamburger-Verpackungen erlassen haben. Entsprechendes ist den Mitgliedsstaaten auch nach Artikel 36EWG- Vertrag oder Artikel 100a Absatz4 EWG-Vertrag unter bestimmten, allerdings viel zu engen Voraussetzungen erlaubt. So darf etwa Dänemark nach der sogenannten Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes Einwegflaschen aus Gründen des Umweltschutzes verbieten.

Wahnsinn der Europäischen Agrarpolitik

Die Möglichkeit, die Handelsfreiheit aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses einzuschränken (es geht hier nicht um Grenzen), müßte durch die EG nicht unterbunden, sondern geregelt werden. Die EG-Harmonisierungsregelungen müßten dann auch grundsätzlich nur als Mindeststandards erlassen werden, die die Mitgliedsstaaten und ihre Untergliederungen zum Wohle der Menschen und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen überschreiten dürfen. Ein auf diese Weise vollzogener Wertewandel, für den es Ansätze im EG-Vertrag gibt, ermöglicht nicht nur den benachteiligten Regionen der EG, sondern auch neuen Mitgliedsstaaten, im Gemeinsamen Markt zu leben und zu überleben.

Die Interventionspreise der EG, die die Bauern vor dem Weltmarkt schützen soll, waren und sind ihr Tod, weil sie überall und für jedes Produkt, egal, wie hergestellt, gleich sind. Nur mit differenzierten Preisen, mit denen eine wünschenswerte, d.h. Ressourcen sparende Produktion angemessen entlohnt wird und die auf die regionalen Umweltbedingungen Rücksicht nehmen, kann gegenüber industrieller Produktion von Agrargütern eine bäuerliche Landwirtschaft erhalten bleiben. Dann sind auch Beitritte weiterer Mitgliedsstaaten möglich, ohne daß dies verheerende Folgen für ihre Bauern und die der EG bedeutete.

Heer zusätzlicher Arbeitssuchender

Die EG-Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen kann bei der Erweiterung auch erst nach einer Übergangszeit eröffnet werden. Wie bei Griechenland, Spanien und Portugal. Eine Politik der Bewahrung gewachsener lokaler und regionaler Produktionsstrukturen würde Lebensperspektiven zu Hause erhalten und schaffen und so den Wanderungsdruck an den Wurzeln bekämpfen.

Für die Umorientierung und Reform der EG, wie sie sozial und ökologisch ohnehin überfällig und für ihre Gesamteuropa-Tauglichkeit zwingend ist, brauchen keine neuen Verfahren und Instrumente erfunden zu werden: Sie wurden in der Integrationsgeschichte diskutiert, entwickelt und — zuletzt auch in Maastricht — angewandt.

Willy Brandt hat 1974 den Begriff der abgestuften Integration eingeführt. Sie wurde unter den Formeln „two or multi tier system“ oder „Europa a deux vitesses“ oder später „Europe a geometrie variable“ diskutiert. Auch „differenzierte Integration“ (Scharrer, 1979) oder „Europa à la carte“ (Dahrendorf, 1979) waren gängige Formeln. Es handelte sich um Vorschläge, die Integration weiterzutreiben, auch wenn es unvereinbare Unterschiede gab. Mit EG-Recht, das zugunsten von Zielen, die als höherrangig anerkannt sind, differenziert werden darf, kann das Recht auf Verschiedenheit (Biedenkopf) in einem vereinten Gesamteuropa verteidigt werden. Seine Regionen wären dann mehr als Aufbewahrungsorte für standardisierte Marktbürger.

Die Gremien der EG sind sofort zu öffnen, um dort gleichberechtigt über Erweiterung, Reform und Weiterentwicklung der EG zu beraten und zu entscheiden. Die Diskussion über das Für und Wider der Maastrichter Beschlüsse geht an den historischen Herausforderungen für Europa vorbei. Wolfgang von Nostitz

Der Autor war 1987 bis 1989 Mitglied des Europa-Parlaments für die Grünen.