NOTIZEN ZUR STIMMUNGSLAGE DER NATION — LETZTER TEIL
: „Die Reisefreiheit nützt überhaupt nix“

Bequatscht und verschaukelt fühlen sich die Menschen in der ehemaligen DDR  ■ Auf den Schienen Bascha Mika

Wie ein Pinguin in der Wüste, schwarz-weiß und winzig, sitzt die Ursulinenschwester vom St.-Josefs-Stift im Zug nach Schwerin. Der Mißmut ihrer Landsleute entlockt ihr ein mildes Lächeln: „Für die Menschen ist es schwer zu begreifen, daß nicht alles so schnell geht. Ist doch alles im argen gewesen im Sozialismus. Aber es wird schon werden, mit Gottes Hilfe.“

Doch dieses Vertrauen haben, weiß Gott, die wenigsten in der ehemaligen DDR. Eher magengeschwürfördernde Aggressionen oder Schwermut im Leib. Der Zöllner aus Boizenburg redet los wie ein Wasserfall: „Die Leute hier ham sie voll vorn Koffer getreten. Wenn du's Kleingeld nicht hast, nützt dir die Reisefeiheit überhaupt nichts. Die kann sich Kohl irgendwo hinklemmen.“ Er hätte zwar Arbeit, seine Frau auch, aber wo man hinhöre: Alles Scheiße!

Dann zählt er auf: die vielen Arbeitslosen, die Schulden, die Obdachlosen, die unter den Brücken schlafen, die Milliarden für die Rüstung und die Arbeiter, die für 1.000 Mark buckeln, während die in Bonn 6.000 fürs rumsitzen kassieren. „Irgendwann geht der Hammer voll nach hinten los“, unkt er. „Der Kohl merkt überhaupt nicht, was los ist mit den Rechten. Da hatten sie doch gestern in einer Talk-Show zur Berliner Wahl den Schönhuber. Wenn der schon einfach im Fernsehen auftreten darf!“ „Der reinste Terror ist das mit den Neonazis“, nickt ein Mitreisender ihm zu. „Das werden viele erst glauben, wenn sie auf der Sraße verprügelt werden. Bisher passiert das Deutschen ja nich. Aber das kommt auch noch. Und wenn die Ausländer erst mal das Land verlassen — ade, Europa!“ „Kohl unterscheidet sich von Erich durch nichts“, muß der Zollbeamte noch loswerden, „mich kotzt das an, nur quatschen und quatschen und für die Menschen kommt nichts dabei rum.“

„Das mußt du dir mal vorstellen“, erzählt die ehemalige Krippenerzieherin ihrer Freundin, „Seit Jahren waren die im Westen. Und dann sind sie einfach zu ihrem alten Haus hingekommen, sind einfach rein und wollten es zurückhaben. Haben praktisch die Familie, die da schon jahrelang gewohnt hat, rausgeschmissen.“ Gereizt klappert sie mit dem Deckel des festgeschraubten Zugaschenbechers. „Bis jetzt hat uns die Wiedervereinigung nur Nachteile gebracht. Man hätte das doch auch anders machen können, nicht so schnell. Die Reisefreiheit sofort“, schlägt sie vor, „und alles andere langsam hinterher.“ „Wenn ich daran denke, was uns der Kanzler versprochen hat“, seufzt die andere, die mit ihren knapp 40 Jahren auf Köchin umschult und schon die richtige Figur mitbringt, „jetzt steigen die Lebensmittelpreise und die Mieten und überhaupt alles. Aber unsere Gehälter werden nicht höher. Und dann will der Herr Waigel auch noch sparen.“

So wie er aussieht, hat er bereits eine chronische Gastritis, der Fahrgast in Jeans, der sich blaß in die Eisenbahnpolsterf lehnt. „Diese Angst vor der Zukunft. Und nett ist es auch nicht gerade“, sagt er und blickt aus dem Fenster, „wenn einem dann an den Kopf geschmissen wird: Ihr habt 40 Jahre nicht gearbeitet, und wir müssen euch jetzt aus der Scheiße raushelfen.“ Wenn man in der DDR gelebt hätte, sähe man das schließlich anders.

„Politik“, zuckt er die Achseln, „kann an der ganzen Situation nicht viel tun. Das ist doch die Wirtschaft. Das hängt eben mit den Konzernen zusammen.“ „Verstehen kann ich die aus'm Westen machmal schon“, brummt ein 50jähriger ehemaliger LPG-Arbeiter und hebt kaum den Kopf, „daß die sich über den Lastenausgleich aufregen. Wer wollt schon für 'nen andern bezahln. Aber die Kälte, die dort drüben herrscht.“ er schüttelt sich. „Das war bei uns nich so. Na ja, die Einheit ist gekommen, und wir müssen sie in Kauf nehmen.“

Eine ältere Dame aus dem Westen ist auf dem Weg zu Verwandten in Schwerin. „Finden Sie nicht“, fragt sie und lächelt sanft, „daß die meisten hier nach der Wende doch sehr zufrieden sind?“