Der Barrakuda im Goldfischteich

■ Musikalisch bringt die derzeit erfolgreichste Hardrock-Band der Welt nichts Neues. Doch ihre Platten erzielen in kürzester Zeit Platin-Status, 17 Millionen Mal ging seit 1987 allein ihr Debütalbum ...

Der Barrakuda im Goldfischteich Musikalisch bringt die derzeit erfolgreichste Hardrock-Band der Welt nichts Neues. Doch ihre Platten erzielen in kürzester Zeit Platin-Status, 17 Millionen Mal ging seit 1987 allein ihr Debütalbum „Appetite For Destruction“ über den Ladentisch. Dabei ziehen sie einfach nur die gleiche antisoziale Nummer ab wie zahllose Rockbands vor ihnen. Das Eröffnungskonzert in Berlin mußte ins Olympiastadion verlegt werden. 75.000 erwartet heute abend das Phänomen „Guns N'Roses“.

VON KARL WEGMANN

Wer oder was zum Teufel sind Guns N'Roses?“, fragte der taz- Nachrichtenredakteur, als ihm ein Artikel über die Hardrocker angeboten wurde. Auch seine Kollegen wußten zunächst mit dem Namen nichts anzufangen. Bis sich eine zaghafte Stimme meldete und fragte: „Sind das nicht die mit den schwulenfeindlichen Texten?“ Den meisten Menschen, die Ende dreißig oder älter sind, fällt zu Guns N'Roses nichts ein, oder aber sie erinnern sich gerade mal an einen Skandal, den die Truppe verursachte. Dabei sind Guns N'Roses ein Phänomen. Ihre Platten erreichen in kürzester Zeit Platin-Status, und auf ihren Tourneen füllen sie mit Leichtigkeit Fußballstadien. Was ist also dran an dieser Musik-Gruppe aus den USA, die für die 'Los Angeles Times‘ die „unwiderstehlichste Rockband seit den Doors“ ist?

Ende der siebziger Jahre explodierte in England der Punk. Es dauerte nicht lange, und die neue Musikrebellion breitete sich wie ein Flächenbrand über den ganzen Globus aus. Angeführt wurde die Bewegung von den Sex Pistols. No future hieß ihre Philosophie: Die alte Rockmusik ist ausgelutscht, vom Kommerzbetrieb aufgesaugt. Sex ist etwas Lächerliches, und die ganze Welt wird von alten Drecksäuen regiert, die uns nicht den Hauch einer Chance lassen. Wir sehen nichts anderes als ein graues Loch. Was da hineingefallen ist, wird unterdrückt — auch die Kunst. Also leckt uns alle am Arsch!

Punk-Rock war ein einziger wütender Protestschrei. Er war laut, ungehobelt, dreckig und lenkte jede Menge Aufmerksamkeit auf sich. Doch schon nach ein paar wilden Jahren war's vorbei mit der „Anarchy in the UK“. Slam Dancing wurde gesellschaftsfähig, und zerfetzte T- Shirts und Sicherheitsnadeln für Nase, Brust und Ohren eroberten die schicken Mode-Boutiquen. Inzwischen ist der Punk genauso tot wie ihr Prophet Sid Vicious.

Lange Zeit passierte nichts Aufregendes. Aber dann, 1985, als jeder echte Rebell schon glaubte, Hitparaden, MTV und die geldgierigen Manager der Musikindustrie hätten dem Hard-Rock endgültig das Genick gebrochen, wurde ein neuer Gigant geboren: Guns N'Roses. Die Gunners kamen aus Los Angeles und stießen ins Musikgeschäft wie ein Barrakuda in einen Goldfischteich. Dabei zogen sie einfach nur die gleiche antisoziale Nummer ab wie Dutzende von Rock- Bands vor ihnen: Sie bekannten sich zum Drogenkonsum, schworen auf Alkohol, hielten Termine nicht ein und behaupteten, die Bedeutung des Begriffs „Safer Sex“ sei ihnen unbekannt. Abgefuckte Underdogs — so wollten sie ihr Image, und so kriegten sie es.

Guns N'Roses wurden im März 1985 von dem Sänger W. Axl Rose, den Gitarristen Saul „Slash“ Hudson und Izzy Stradlin (Jeff Isabelle), Bassist Duff McKagan und Schlagzeuger Steven Adler gegründet. Schon bald waren die frechen Rotzlöffel, alle Anfang bis Mitte zwanzig, in der Gegend in und um L.A. ebenso berühmt wie berüchtigt. Ein Jahr später brachten sie auf ihrem eigenen Label „Uzi Suicide“ die 4-Track-EP Live Like A Suicide heraus. Dieser erste aufrechte Gehversuch der Band wurde ein Renner und von Musikkritikern in den höchsten Tönen gelobt. Mehr Ermutigung brauchte die Plattenindustrie an der West Coast nicht. In den folgenden Wochen fraßen und soffen sich die Gunners auf Spesenkosten jedes maßgeblichen Plattenlabels in Hollywood durch die teuersten Restaurants und Hotels. Schließlich unterzeichneten sie bei Geffen Records.

Als dann 1987 Appetite For Destruction erschien, war die Rockwelt um eine Sensation reicher: Die Langspielplatte stürmte die Charts und die Fans die Läden. Bis heute wurden knapp 17 Millionen Platten abgesetzt. Damit ist Appetite For Destruction das bestverkaufte Debütalbum aller Zeiten. Für die Musikzeitschrift 'Rolling Stone‘ waren die Gunners jetzt „die aufregendste Rock 'n' Roll-Band der Welt“, und der 'New Musical Express‘ erschauderte ehrfurchtsvoll vor dem „größten Monster, das Hollywood je geschaffen hat“. Doch der Titel, der den Gunners bis heute anhängt, wurde ihnen von dem Metal-Magazin 'Kerrang!‘ verpaßt: „The most dangerous Band in the world“.

Axl Rose und seine Mannen wurden vom Erfolg völlig überrannt. Alle Welt wollte Interviews und möglichst saftige Details über „die gefährlichste“ aller Rockbands hören. Eine Zeitlang machten die Gunners dieses Theater mit und hatten mächtig Spaß dabei. Auf die Frage nach ihrem Reichtum antwortet Axl: „Wir haben bei ungefähr 100 Millionen Dollar aufgehört zu zählen.“ Der „Guns“-Sänger gab bekannt, er habe die bezaubernde Angewohnheit, Hunde abzuschlachten: „Ich hab' eine persönliche Abneigung gegen kleine Hunde, zum Beispiel Pudel. Alles an ihnen sagt mir, daß ich sie killen muß.“ Das ganze wüste Zeug wurde von der Boulevardpresse für bare Münze genommen und gierig aufgesogen. Der entsetzte Leser erfuhr, daß Axl auf einer Grillparty ein Schwein erschossen und eine Nachbarin mit einer leeren Weinflasche verprügelt hatte und daß Izzy seinen Ruhm dadurch mehrte, daß er auf dem New Yorker Airport von einem riesigen Polizeiaufgebot abgeholt wurde, nachdem er volltrunken in einen Flugzeugaschenbecher gepinkelt hatte. Es war wie bei den Rolling Stones und den ganzen Hardrockern der Siebziger. Die Journaille liebte Guns N'Roses, und Eltern versuchten ihre Kids einzukerkern, wenn die Monster ihre Stadt heimsuchten.

Dann kam der 20. August 1988, ein Datum, an dem der Band und ihren Fans erstmals das Lachen verging. Ort des Unglücks war das achte Monsters of Rock Festival in Castle Donington in den englischen Midlands. Als die Gunners um 14 Uhr die Bühne betraten, war der Acker, auf dem sich zu diesem Zeitpunkt circa 50.000 Zuschauer drängten, längst ein Schlammbad. Die Menge wurde unruhig, und die Band sah die Katastrophe kommen. Sie unterbrach mehrmals ihren Auftritt, und Axl forderte die Fans auf, sich zu beruhigen. Ironischerweise waren seine letzten Worte, bevor er die Bühne verließ: „Bringt euch nicht um!“ Er wußte nicht, daß zu dem Zeitpunkt bereits zwei Teenager zu Tode getrampelt worden waren. Obwohl die Polizei sich beeilte, mitzuteilen, daß es sich um einen Unfall gehandelt habe (was auch die Untersuchung bestätigte), stürzte sich Englands Boulevardpresse wie eine Meute tollwütiger Hunde auf den Fall. Die Zeitungen brachten reißerische Stories, in denen behauptet wurde, daß die Bühne zusammengebrochen sei und daß Guns N'Roses sich geweigert hätten, ihren Auftritt zu unterbrechen, selbst nachdem man sie vom Schicksal der verletzten Fans unterrichtet hatte.

Ist der Ruf erst ruiniert, rockt sich's völlig ungeniert

Zum ersten Mal ging den Gunners auf, daß ihre Spielchen mit der Presse alles andere als harmlos waren. Sie hörten eine Zeitlang auf, herumzualbern, und Axl erschien nicht mehr zu Pressekonferenzen. Es war längst zu spät. Jetzt waren Guns N'Roses in den Augen der Yellow Press wirklich „die gefährlichste Band der Welt“, jetzt waren sie echte Killer. Doch es kam noch schlimmer. Ist der Ruf erst ruiniert, rockt sich's völlig ungeniert, dachte sich Axl wohl. Auf ihrer im gleichen Jahr erschienenen LP G N'R Lies — das Cover war aufgemacht wie die Titelseite eines Boulevard-Blättchens — erschien der Song One in a Million, in dem Axl erzählt, wie er als Junge vom Lande das erste Mal in den Ghettos von L.A. herumgelatscht sei. Schon während des Songwritings kriegten sich die Bandmitglieder in die Haare. Slash, Sohn einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters, wollte Zeilen wie „Police and niggers, get out of my way...“ nicht akzeptieren und fand die Stelle mit den „immigrants and faggots“ (Einwanderer und Schwuchteln), die „in unser Land kommen und beschissene Krankheiten einschleppen“, einfach widerlich. Aber Axl setzte sich durch, und der Song wurde auf die Platte gepreßt. One in a Million löste berechtigterweise einen Sturm der Empörung aus. Plattenläden und Radiostationen boykottierten die Gunners, und angesetzte Konzerte wurden storniert. Obwohl der Song niemals live gespielt wurde und Axl sich hundertmal in aller Öffentlichkeit für diesen Mißgriff entschuldigte, blieb das Rassisten-Image hängen.

Ein Jahr später, 1989, machten die altehrwürdigen Rolling Stones die Gunners wieder hoffähig. Mick Jagger persönlich setzte sich dafür ein, die Skandal-Band als Vorgruppe auf ihrer „Steel Wheels“-Tour durch die USA auftreten zu lassen. Nach der Tour war klar, daß Guns N'Roses den Stones in nichts nachstanden, und Axl versprach, daß sie nie wieder als Vorgruppe von irgendwem auftreten würden. Im Juli 1990 wurde Steven Adler wegen seiner Drogenprobleme gefeuert und durch den früheren Cult-Drummer Matt Sorum ersetzt. Ansonsten war von den Gunners nicht mehr viel zu hören, und alle Welt dachte, na ja, das war's dann wohl. Weit gefehlt. Geffen Records ließ verkünden, daß Guns N'Roses genau am 17. September 1991 als erste Rock-Gruppe zwei Doppelalben, Use your Illusion I und Use your Illusion II, gleichzeitig herausbringen würde. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Unterhaltungsindustrie hatten die Plattenläden in den USA entweder bis 24.00 Uhr geöffnet oder machten um Mitternacht auf. Den ganzen Tag über versammelten sich, von New York bis Los Angeles, die Käufer vor den Läden. Sämtliche Nachrichtensendungen des Landes berichteten über das Phänomen. Als dann Punkt 24.00 Uhr die Läden geöffnet wurden, stürmte die Menge los, und zwei Stunden später waren je 500.000 Stück der beiden LPs verkauft. Use your Illusion I und II stiegen in den USA, in England, Australien, Neuseeland und Japan sofort auf Platz eins und zwei der Charts. In Schweden, Deutschland, Österreich, Norwegen, Spanien und der Schweiz kamen sie bis in die Top-5.

Guns N'Roses geben „einer Generation, die mit Hoffnungslosigkeit geschlagen ist, ein bißchen Würde“, schrieb der 'Spiegel‘. „Sie leihen den Ausgestoßenen und den Rebellen ein paar schmutzige Worte, ein paar schnelle Rhythmen und ein paar zerhackte, harte Melodien — ein Soundtrack zur alltäglichen Apokalypse, eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Langeweile, eine Gegenwartsbeschreibung ohne Vision.“ Pünktlich zur Deutschlandtournee sind sogar zwei Biographien erschienen: Guns N'Roses vom Doors-Chronisten Danny Sugarman (Goldmann, 20 Mark) und Shotgun Blues von Mick Walls (Hannibal, 29,80).

Inzwischen sind Guns N'Roses selbst stilbildend. Bands wie Nirvana, Pearl Jam oder Red Hot Chili Peppers sind Nachfolger, die alle in die gleiche Kerbe hauen — und sie werden gehört. Die 68er haben vergessen, daß auch die Rolling Stones zu ihrer großen Zeit wild und exzessiv lebten, mit ihrer Rebellion Millionen verdienten und als gewalttätig und obszön galten. Die Alten berauschen sich heute an Genesis' Fahrstuhlmusik und halten Bryan Adams für hart. Aber ihre Kinder können mit Plastik-Pop nichts anfangen, sie wollen wieder das Authentische, denn sie haben kapiert, was ihre Eltern längst verdrängt haben: Nice Boys Don't Play Rock 'n' Roll.

Weitere Tourneedaten: 28.5: Stuttgart/ 30.5: Köln/ 3.6: Hannover/ 20.6: Würzburg