Tschernobyl endgültig ausgeknipst

■ Die ukrainische Regierung schaltet die verbliebenen Blöcke des Katastrophen-Atomkraftwerks endgültig ab/ Nachrüstung wäre zu teuer gekommen/ Stromversorgung durch neuere AKWs

Berlin (taz) — Sechs Jahre nach dem bisher schwersten Atomunfall in der Geschichte der Atomenergienutzung sind nun alle vier Reaktoren des Atomkraftwerks in Tschernobyl endgültig abgeschaltet worden. Die ukrainische Regierung nahm in den vergangenen Tagen die noch intakten Kraftwerksblöcke vom Netz. Wie Umweltsminister Klaus Töpfer gestern nach einem Gespräch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Juri Scherbak erklärte, bleiben die Kraftswerksblöcke auch dauerhaft stillgelegt.

Nach Töpfers Angaben waren in erster Linie finanzielle Aspekte für die Entscheidung der ukrainischen Regierung ausschlaggebend. Die Modernisierung des Kraftwerks sei nicht mehr finanzierbar gewesen, sagte der Minister am Rande eines Treffens mit zwölf Umweltministern aus Mittel- und Osteuropa bei der Düsseldorfer Umwelttechnikmesse ENVITEC.

In dem 130 Kilometer nördlich von Kiew gelegenen Atommeiler hatte sich am 26. April 1986 der von der Atomgemeinde immer ins Reich der Fabeln verwiesene „größte anzunehmende Unfall“ (GAU) ereignet. In seiner Folge wurde nicht nur die unmittelbare Umgebung des Atomkraftwerks verstrahlt — an den Folgen der außerordentlichen Strahlenbelastung leiden noch heute Tausende von Menschen. Der havarierte Block wurde nach dem GAU einbetoniert, die noch intakten Blöcke allerdings wieder ans Netz genommen. Mitte Oktober 1991 war es dann im zweiten Block des — nach westlichen Maßstäben — völlig veralteten Atomkraftwerks zu einem verheerenden Turbinenbrand gekommen. Auch der zweite Block mußte stillgelegt werden.

Für die jetzige Entscheidung der ukrainischen Regierung war die jüngste Havarie im baugleichen Atomkraftwerk von Sosnovy Bor in der Nähe von St. Petersburg ursächlich. Als Unfallursache wurde nach einer vom russischen Atomministerium in Auftrag gegebenen Überprüfung ein typenspezifischer Defekt in einem Ventil im Kühlwasserkreislauf ermittelt. Daraufhin mußten mehrere Atommeiler des Tschernobyl-Typs RBMK abgeschaltet werden.

Die Verfasser der russischen Studie sprachen von einem „schockierenden Ergebnis“, weil der von ihnen entdeckte Defekt in den anderen Reaktoren der gleichen Baureihe ebenso auftreten könne. Der festgestellte Fehler war zudem in den Planspielen für mögliche Unfallszenarien nicht vorgesehen. Die Wissenschaftler stellten daraufhin die Hypothese auf, der Unfallverlauf könne ursächlich auch mit den Maßnahmen in Zusammenhang stehen, die zur Nachrüstung der RBMK-Reaktoren nach dem Unglück von Tschernobyl durchgeführt wurden.

Ein Austausch der defekten Ventile wird nach Angaben von Atomenergieexperten wenigstens 13 Monate in Anspruch nehmen, weil diese erst hergestellt werden müssen.

Die Regierung in Kiew hatte in den vergangenen Monaten wiederholt ihre Besorgnis geäußert und angekündigt, in den nächsten Jahren aus der Nutzung der RBMK-Reaktoren aussteigen zu wollen. Angesichts der nun noch einmal fällig gewordenen Revision und Nachrüstung der Atommeiler beschloß die Regierung der Urkraine nun offenbar, den Atomkomplex in Tschernobyl sofort aufzugeben. Die Stromversorgung soll nach den von Töpfer zitierten Angaben seines ukrainischen Kollegen durch zwei modernere Atomkraftwerke sichergestellt werden. wg