DEBATTE
: Plädoyer für die große Koalition

■ Geteilte Verantwortung statt allgemeiner Verantwortungslosigkeit

Noch immer warten wir vergeblich auf die tatkräftigen Entschlüsse der Regierung Kohl, die doch fest versprochen waren. Achtzehn Monate lang, nach den Landtagswahlen Anfang April und vor dem Superwahljahr 1994, wollte der Kanzler mit seiner Koalition ernsthaft regieren: Maastricht, Pflege, Asyl, Finanzen, Einheit.

Doch seit den bemerkenswerten Wahlergebnissen vom 5. April konzentriert sich Helmut Kohl wie selten zuvor darauf, die miesen Zeiten auszusitzen. Gleichzeitig erlebt die Republik in wenigen Wochen eine Reihe von Vorgängen, die sensationell und ausnahmsweise wirklich neu sind. Die Art etwa, wie der deutsche Außenminister gekürt wird, oder: das Ende der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst, und auch, daß beide Volksparteien im Osten Berlins zusammen nicht auf 50 Prozent kommen — schrille Ereignisse, für dieses ruhige Land ungewohnt. Doch vor und hinter dieser farbenprächtigen Kulisse geschieht indessen nichts. Durchhalten, meint der Kanzler. Mal sehen, was drin ist, denkt sich Björn Engholm. Die CSU provoziert gewaltig mit Worten. Die Grünen vertrauen auf die Schlechtigkeit der anderen. Die FDP leckt noch die Wunden. Und die „Republikaner“ freuen sich auf das Jahr 1994.

Die Entwicklung, geht sie so weiter wie bisher, läuft gradlinig auf eine große Koalition nach der nächsten Bundestagswahl zu. Wie in Berlin und Baden-Württemberg werden sich die beiden Großen 1994 aus purer Verlegenheit und weil nichts anderes übrig bleibt, zu einem Bündnis entschließen, das sich vor allem dadurch auszeichnet, daß die eine Partei die andere so gut wie möglich im Zaume halten kann.

Vor dieser unerquicklichen Perspektive kann uns eigentlich nur noch eins schützen: die große Koalition — jetzt. Ein paradoxes Plädoyer. Aber wie sonst kann die herrschende Politik aus der Untätigkeit, der wechselseitigen Blockade und Lähmung wieder herausfinden? Die Parteienverdrossenheit, das allgemeine Unbehagen an der Politik und den Politikern hat sich potenziert, seit sich herausgestellt hat, daß die deutsche Einheit weder ein fröhlicher Spaziergang noch busines as usual sein wird. Nicht nur der Sache halber — wenn 60 plus 16 Millionen Menschen ein neues Ganzes bilden sollen, geht das eben nicht beiläufig— überragt dieses Thema alle anderen, auch die brisante Asyldiskussion. Es ist der wichtigste Maßstab für die Handlungsfähigkeit und Ehrlichkeit von Parteien und Politikern.

Aber die versagen. Die führende Regierungs- und die führende Oppositionspartei, laut Lehrbuch der Demokratie in produktiver, mehrheitsbildender Konkurrenz um die besseren Ideen, Konzepte und Wähler, halten sich in Wahrheit nur noch gegenseitig in Schach. Weil Union und SPD, krisengezeichnet bereits vor der Einheit, nur noch angstvoll um die Wähler buhlen, mogeln beide unentwegt. Seit der Wahl 1990, als die folgenschwere Kanzlerlüge gegen die folgenlosen Kassandrarufe der SPD gewann, betreiben die Volksparteien eine informelle große Koalition besonderer Art. Beide dröhnen immer lauter: Sparen, Teilen, Opfern. Aber — gewissermaßer augenzwinkernd — jede signalisiert auf ihre Weise an die jeweilige Klientel: Nicht ihr, die anderen sollen opfern, sparen, teilen. Die Leistungsstarken will Theo Waigel nicht belasten, denn das wäre ein demotivierendes Signal. Die SPD wiederum: Sozial gerecht soll das Teilen sein. Die Botschaften sind nicht nur gleichermaßen unklar, sie produzieren auch die gleichen Resultate. Im Osten wächst die Erbitterung, im Westen entstehen Ängste und ein lähmendes Gegeneinander. Nicht nur Gewerkschaften und Arbeitgeber, auch Bund, Länder und Gemeinden streiten sich ums Geld. Tragfähige Kompromisse finden die „öffentlichen Hände“ allerdings nicht — der Staat als Vorbild des Gruppenegoismus.

Die großen Parteien müssen ihre Gräben verlassen, damit zusammenwächst, was doch viel weniger zusammengehörig sich fühlt, als Willy Brandt erhoffte. Nur die geteilte Verantwortung wird das heimliche Bündnis der allgemeinen Verantwortungslosigkeit aufreißen können. Anstelle einer Politik, die Angst und Abwehr auslöst, eine nüchterne Politik der deutschen Integration einzuleiten, das spricht für eine schwarz-rote Koalition. Das wäre mehr, als jede andere Konstellation leisten kann: statt der Nebelvorhänge eine ehrliche Diskussion darüber, welche Lasten die deutsche Einheit kosten wird und wie schnell die Angleichung gehen kann. Statt der ideologisch verfärbten Konfrontation um die Wirtschaftsentwicklung in Osten — Marktwirtschaft pur versus Investitionslenkung — vielleicht ein gesünderer Pragmatismus.

Was wären denn die Alternativen? Die gegenwärtige Regierung kann sich nicht mehr aufraffen. Die Eckwerte des Finanzministers enthalten, abgesehen von der drakonischen Drohung, die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit zu streichen, keine Maßnahme, aus der ersichtlich würde, wie die gute Sparabsicht eingelöst werden soll. Nichts glückt mehr: Der Kompromiß zur Pflegeversicherung ist kaum verkündet, da dementiert die FDP. Neues Personal bei alter Koalition? Da fällt allen nur der Name Biedenkopf ein, doch, bei aller Wertschätzung, ein neuer Kopf reicht nicht. Neuwahlen? Die wollen die beiden großen Parteien am wenigsten, und wahrscheinlich stünde die Frage nach den Regierungskoalitionen danach nicht anders.

Jedenfalls ist nicht vorstellbar, daß auf die gegenwärtige Regierungskonstellation übergangslos neue Koalitionen folgen. Die rot- grüne Option ist nach Lage der Dinge unrealistisch. Zudem weiß niemand, was so ein Regierungsbündnis eigentlich machen würde. Reichlich absurd wäre auch die Hoffnung, die FDP würde aus dieser Koalition direkt in eine Ampel springen — weniger, weil der FDP schroffe Wechsel nicht zuzutrauen wären. Die Liberalen würden einfach wissen wollen (was sie jetzt nicht wissen können), worauf sie bei einem sozialdemokratischen Koalitionspartner eigentlich rechnen können. Kurzum: wenn Union und SPD zusammen regieren, könnte das auch eine überfällige Lockerungsübung für die bundesdeutsche Parteienlandschaft sein.

Die große Koalition belebt das Geschäft der Opposition. Die SPD muß wohl erst in eine Regierungsverantwortung genötigt werden, bevor das große Publikum erkennen kann, was diese Partei überhaupt will. Ihre größte Schwäche bleibt ihr verschwommenes Profil. Während sie früher beides zugleich war, (potentielle) Regierungspartei und oppositionell, ist sie heute weder das eine noch das andere. Die FDP regiert jetzt wackere 23 ununterbrochene Jahre. Da kann eine Runde Opposition nicht schaden, erst recht, wenn man sich ausrechnen muß, 1994 von einer großen Koalition verdrängt zu werden. Die Grünen schließlich, bald vereint mit dem Bündnis 90, würden sich hoffentlich durch eine große Koalition herausgefordert sehen und den Versuch beenden, sich bis 1994 passiv durchzuschleichen. Bleiben die Rechtsradikalen. Gegen eine Elefanten-Koalition gibt es viele berechtigte Einwände. Aber ob das drohende Anwachsen der Reps dazugehört, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Sie gedeihen vor allem, weil sich die herrschende Politik vor den Problemen drückt, sie gedeihen dann, wenn der Alltagstrott immer wieder angekündigter, relativierter, schließlich widerrufener Handlungen weitergeht. Eine große Koalition im Jahr 1992 könnte eben diesen Trott beenden.

Die berechtigten Einwände gegen eine große Koalition bleiben hier unerwähnt, weil sie dem sozialliberal- links-alternativen Milieu ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ein unschlagbarer Vorteil zum Schluß: der hier erwünschten großen Koalition von 1992 ist eine natürliche Frist gesetzt, die Bundestagswahl 1994. Geht jedoch alles so weiter wie bisher, dann drohen der großen Koalition von 1994 endlos lange Jahre. Tissy Bruns