Japan: Mehr Freizeit, weniger Streß

Per Fünfjahrplan wird den JapanerInnen mehr Lebensqualität und weniger Arbeitszeit verordnet  ■ Aus Tokio Georg Blume

Schon an den vorausgegangenen Arbeitstreffen der beratenden Kommissionen hatte der Premierminister persönlich teilgenommen. Sogar in Beamten- und Industriekreisen war deshalb Kritik an dem ungewöhnlichen Engagement des Regierungschefs aufgekommen. Doch gegen alle Einwände legte Kiichi Miyazawa nun seine Reformpläne vor. „Japan“, wiederholte der Premierminister sein Lieblingswort, „soll eine Großmacht für Lebensqualität werden.“

Mit anderen Worten: Den Menschen wird ein Land versprochen, in dem es sich nicht nur arbeiten, sondern auch leben läßt. Zu diesem Zweck will Kiichi Miyazawa die durchschnittliche Jahresarbeitszahl von heute über 2.000 Stunden auf 1.800 Stunden im Jahr 1995 reduzieren. Durch eine neue Bodensteuer soll den JapanerInnen außerdem das Eigenheim-Bauen erschwinglicher gemacht werden.

In dem großen Ziel, die Lebensqualität aller durch mehr Freizeit und weniger Streß zu erhöhen, hat die Regierung plötzlich die Hauptaufgabe ihres Wirkens erkannt. Das zu erreichen, bedient sie sich eines angeblich unfehlbaren Mittels: dem japanischen Fünfjahrplan. Bis Mitte Juni soll der neue Plan, der bis März 1997 reicht, vorliegen. Seine Grundzüge gab man jetzt in Tokio bekannt.

Ausgerechnet jener Industrieplan also, mit dem die japanischen Unternehmen in der Nachkriegszeit großgepäppelt wurden, soll heute helfen, die „unternehmensorientierte Gesellschaft“ in eine „verbraucherorientierte Gesellschaft“ zu verwandeln. Ihn umzusetzen ist wiederum Aufgabe des mächtigen Industrie- und Handelsministeriums (Miti), das bislang eher für die Organisation von Exporterfolgen denn für seine Fürsorge gegenüber ArbeiterInnen und Angestellten bekannt ist. Doch glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, so haben Regierung und Ministerien gänzlich umgedacht: „Da das japanische Arbeitskräfteangebot zurückgeht“, begründete das Tokioter Planungsministerium den neuen Fünfjahrplan, „ist jetzt die Zeit gekommen, die Arbeitsbedingungen entsprechend den Regierungsvorschlägen zur Erhöhung der Lebensqualität zu verbessern.“

Konkret will die Regierung eine Fünftagewoche und großzügigere Ferienregelungen unterstützen, damit die Arbeitszeit auf 1.800 Stunden im Jahr sinkt. Eine höhere Bodensteuer für die immer noch zahlreichen unbebauten Stadtgebiete soll Anreiz für neue Bauflächen schaffen, damit der Hausbau wieder billiger wird. Zur Zeit liegt der durchschnittliche Hauspreis achtmal so hoch wie das durchschnittliche Jahreseinkommen einer Familie. Nun verspricht die Regierung diese Kosten auf das Fünffache des Jahreseinkommens zu senken. Außerdem sollen freiwillige soziale Dienste in der Gemeinde zukünftig finanzielle Unterstützung finden. Bei den Investitionen für die öffentliche Infrastruktur will die Regierung nunmehr vermehrt auf die Bedürfnisse des einzelnen eingehen und statt immer nur Straßen auch Parks und Freizeitanlagen bauen. Alle diese Vorhaben stoßen in der Öffentlichkeit kaum auf Widerspruch, doch noch weniger finden sie das Interesse der Betroffenen. Denn allzu wenige mögen den Versprechungen einer neuen Lebensqualität Glauben schenken.

Doch wissen die Ministerien, was für sie auf dem Spiel steht. Zu erfolgreich für die Welt und zu mächtig für Japan sind Nippons große Unternehmen geworden, als daß es noch länger Aufgabe der Regierung sein könnte, ihren Wachstumsdrang vorbehaltlos zu unterstützen. Statt dessen sieht sich ausgerechnet das Miti in der Rolle, den Schaden zu begrenzen, der durch die großen Konzerne erwächst. Das gilt vor allem für die Handelspolitik, wo das Miti derzeit mit Importanreizen und Exportbegrenzungen Japans prekäre Handelsbalance zu wahren sucht. Ebenso muß das Miti seine Aufgabe innenpolitisch für die Öffentlichkeit neu definieren: Hier stehen nun Umwelt- und Verbraucherschutz oben an. Im Mai eröffnete das Ministerium eine neue Umweltabteilung.

„Eine strikte, nur industrieorientierte Politik ist heute nicht mehr möglich“, erkennt Takeshi Isayama, Leiter für Haushaltsplanung im Miti. „Wir müssen ein Gesamtsystem zum Umgang mit Problemen wie der Umwelt oder der alten Bevölkerung entwickeln.“ Noch sind das freilich schöne Worte, die der sozialen und umweltpolitischen Taten entbehren. Vierzig Jahre lang war die Industriepolitik der japanischen Bürokraten liebstes Kind. Der neue Fünfjahrplan fordert dagegen vor allem soziale Eingriffe. Auch wenn das Miti sicherlich mehr als fünf Jahre braucht, um seinen neuen Zielsetzungen wirklich zu folgen: Es fällt doch auf, daß gerade in dem Augenblick, wo die Industriepolitik nach japanischem Muster in Europa viele neue Anhänger findet, in Tokio die Uhren umgestellt werden. Was freilich bedeuten mag, daß sich West und Ost im Wirtschaftsdenken ein wenig näherkommen. Das wäre denn ein gutes Zeichen.