Nach den Todesschüssen wurde gefeiert

■ Weiterer Mauerschützen-Prozeß eröffnet/ Angeklagter: »Ich war ein guter DDR-Bürger«

Berlin. Der wegen Tötung des 21jährigen Silvio Proksch angeklagte frühere DDR-Grenzsoldat ist von seinen Vorgesetzten nicht über den Tod des Mauerflüchtlings informiert worden. Der 32jährige Angeklagte sagte zu Beginn des Prozesses vor dem Landgericht am Mittwoch, er habe am Abend des 25. Dezember 1983 zunächst einen Warnschuß abgegeben, als Proksch im Ostberliner Stadtbezirk Pankow über die Mauer in Richtung Westen klettern wollte. Proksch sei dennoch weitergelaufen. Um ihn an der Flucht zu hindern, habe er sieben gezielte Schüsse auf seine Beine abgegeben. »Ich wollte ihn auf keinen Fall töten«, sagte der Angeklagte.

Laut Anklageschrift war der Angeschuldigte am Abend des 25. Dezember 1983 im Gebiet Pankow als Postenführer zur Grenzsicherung auf einem Postenturm mit einem namentlich nicht mehr feststellbaren weiteren Posten eingesetzt. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hatte sich Silvio Proksch, von Beruf Maurer, am frühen Abend desselben Tages nach erheblichem Alkoholgenuß und Streitigkeiten in seinem Elternhaus spontan entschlossen, über die Mauer in den Westteil der Stadt zu flüchten. Gegen 19.30 Uhr gelangte er in den Bereich des Postenturmes. Nach Überwindung eines Friedhofszauns und der Hinterlandmauer löste er an den dort befindlichen Signalzeichen Alarm aus, und der Angeschuldigte wurde auf den Flüchtenden aufmerksam. Scholz zerschlug daraufhin mit seiner Maschinenpistole das Fenster des Beobachtungsturms und rief: »Halt, stehenbleiben!« Proksch lief jedoch unbeirrt weiter in Richtung Grenzmauer und blieb erst stehen, als er von einem Hund gestellt wurde. Als der Angeschuldigte, zunächst auf den Boden zielend, einen Warnschuß in Richtung des Flüchtlings abgab, entfernte sich der Hund, so daß Proksch weiter in Richtung Grenzmauer laufen konnte. Der Angeschuldigte feuerte nun aus einer Entfernung von 60 bis 100 Metern aus seiner Kalaschnikow sieben gezielte Schüsse auf die Beine des flüchtenden Silvio Proksch ab. Hierbei nahm er es, so die Anklageschrift, »wegen der ihm bekannten eingeschränkten Treffsicherheit der von ihm verwandten Waffe und der schlechten Sichtverhältnisse zumindest billigend in Kauf, daß er dem Flüchtenden tödliche Verletzungen beibringen könne«.

Proksch sei verletzt zusammengebrochen. Der Angeklagte habe ihm eine stark blutende Wunde am rechten Oberschenkel verbunden. Erst mit großer Verspätung konnte der Verletzte in ein Krankenhaus der Volkspolizei gebracht werden, erklärte der 32jährige. Den Transport in ein nahegelegenes Zivilkrankenhaus hätte der Unteroffizier des Grenztruppenregiments abgelehnt. Nach Angaben von Staatsanwalt Olaf Messner verstarb Proksch während des Transports.

Der Angeklagte berichtete vor dem Landgericht, er habe sich sofort nach den Schüssen um den verletzten Flüchtling gekümmert und ihm eine Wunde am Oberschenkel verbunden. Auch habe er unverzüglich einen Krankenwagen angefordert. Ein relativ schnell erscheinender ziviler Krankenwagen sei jedoch an der Grenze abgewiesen worden. Als schließlich ein militärischer eingetroffen sei, habe es wiederum Verzögerungen gegeben, bis der Verletzte abtransportiert worden sei. Darüber habe er sich bei seinem Kommandeur beschwert. Dieser habe ihn wegen der Schüsse belobigt. Später habe es »eine Unmenge Auszeichnungen« gegeben. Für die Offiziere seien die Todesschüsse »ein willkommener Anlaß zu feiern« gewesen: »Mehrere Wochen jagte eine Feier die andere.«

Anschließend wurde er versetzt und zum Schweigen verpflichtet. Der zweite Posten, der jedoch an dem Abend keine Schüsse auf den Flüchtling abgab, ist nach wie vor unbekannt. Der Angeklagte kann sich nach Angaben seines Pflichtverteidigers Matthias Zieger an den Namen nicht erinnern. Die Dienstbesetzung sei täglich geändert worden, so daß persönliche Kontakte zu den Kameraden kaum bestanden hätten, erklärte der Angeklagte.

Der Schlosser sagte in der fünfstündigen Vernehmung, er sei »bis zu dieser Sache ein guter DDR-Bürger gewesen«. Flüchtlinge waren »Leute, die etwas auf dem Kerbholz haben«. Laut Befehl mußte ein Grenzdurchbruch in jedem Fall verhindert werden. Die Vorgesetzten hätten den Soldaten zu verstehen gegeben, daß der Schußwaffengebrauch keine negativen Konsequenzen für sie habe. Bei der Vergatterung seien die Posten an dem Abend gewarnt worden, daß wegen des Weihnachtsfestes mit verstärkten »Provokationen und Grenzdurchbrüchen« zu rechnen sei, so der Angeklagte.

Die Familie von Silivo Proksch erfuhr erst am 24. August 1990 vom damaligen DDR-Staatsanwalt offiziell vom Tod des 21jährigen. Seine Schwester, Helga Barthke, sagte am Rande des Verfahrens, die DDR-Behörden hätten bei den Verhören den Fluchtversuch ihres Bruders geleugnet. Die Polizei habe eine Suchaktion nur vorgetäuscht. Proksch zählt zu den Maueropfern, deren Tötung auch dem früheren DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker und fünf weiteren ehemaligen Spitzenpolitikern zur Last gelegt wird.

Pflichtverteidiger Zieger sagte, Proksch hätte laut einem Gutachten bei schneller ärztlicher Hilfe überlebt. Der Sachverständige soll an einem der nächsten Verhandlungstage gehört werden. Der Prozeß wird am Montag fortgesetzt. adn/dpa