IEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK

Das Tropeneiland Hainan im Südchinesischen Meer preist der

Reiseprospekt als „Hawaii von morgen“.

Eine Rundreise

VONHILKEMAUNDER

Beim Anflug trübt sich die Vorfreude: Riesige Bauruinen ducken sich unter einem tiefschwarz verhangenen Tropenhimmel, rotbrauner Staub bedeckt das Land, erstickt das Grün der Palmen und Reisfelder. Feuchtschwül die Luft noch am Abend. Es riecht nach dem Gestank der Straße und den Exkrementen der Stadt. Hainan, mit 35.000 Quadratkilometern und zehn Millionen Einwohnern nach Taiwan die größte Insel Chinas, gibt sich spröde. Nur langsam erschließt sich ihr Reiz.

Doch das soll sich jetzt ändern. 1989 wurde Hainan aus der Provinz Guandong herausgelöst und zur größten Wirtschaftssonderzone Chinas erklärt. Seitdem wird auf dem „Hawaii von morgen“, wie der kleine Inselprospekt bereits stolz das Tropeneiland im Südchinesischen Meer rühmt, gebaut und gebuddelt. Am schlimmsten tobt der Bauboom in Haikou, mit fast 300.000 Einwohnern größte Stadt auf Hainan. Das höchste — auch an Scheußlichkeit und Preistreiberei — ist das Haikou International Centre. Vom 21. Stock des Gebäudes, 1988 als Hotel, Businesscenter und Einkaufsparadies in einem erbaut, zeigen sich am deutlichsten die Narben, die der Bauboom in den drei Jahren reißen konnte. Immer mehr weicht die Altstadt mit ihren typischen südchinesischen Arkadengängen vor den postmodernen Protzbauten im internationalen Einheitslook zurück. Dennoch: ein Bummel durch die schmalen Gassen lohnt sich.

Stundenlang lassen sich auf dem ausgedehnten Straßenmarkt all die Merkwürdigkeiten bestaunen, die noch heute gängige Klischees in Europa für das Reich der Mitte sind: die jungen Hunde, die von den Hausfrauen für das Mittagessen ausgesucht werden; die Schlangen, Schildkröten, Regenwürmer und sonstigen Tiere, die in Drahtkäfigen und Binsenkörben zum Kauf angeboten werden; die toten Ratten, die ein junger Verkäufer zum Beweis der Wirksamkeit seines Rattengiftes ordentlich vor sich aufgereiht hat.

Für 30 Yuan, rund zehn Mark, fahren viermal täglich klapprige Überlandbusse vom „Huaqiao Dasha“, dem 1963 erbauten überseechinesischen Hotel in Haikou, nach Sanya im Süden. Die Route an der Ostküste entlang dauert rund sieben Stunden. Zwischenstopps werden überall auf Anfrage eingelegt. Eintönig platt zieht draußen die Landschaft vorbei, drinnen dröhnt chinesische Popmusik aus dem Radio, dann starren 39 Augenpaare auf den Bordfernseher, der an einer dünnen Leine in der Busmitte baumelt: Das Video zeigt Action made in Hongkong — Kung Fu, Sex und noch mal Sex. Erst nach gut einer Stunde Fahrt über gut ausgebaute Asphaltstraßen ändert sich das Landschaftsbild. Wasserbüffel ziehen schwere Holzpflüge durch leuchtend grüne Reisfelder. Weite Flußtäler wechseln sich ab mit ausgedehnten Wäldern von tiefgrünen Gummibäumen. Am Horizont erscheint die markante Silhouette des Wuzhi Shan, des 1.867 Meter hohen Fünf-Finger-Berges. In die unwegsame Bergregion, von dichten Urwäldern bedeckt, haben sich die Minoritäten der Li- und Miao-Bergstämme zurückgezogen. In engen Serpentinen klettert der Bus hinauf zur Paßhöhe Baishui Mount, Wasserscheide und Klimagrenze.

Perlenfischer und Flitterwöchler

In Linshui biegt der Fahrer auf die Küstenstraße. Das Meer bietet einen seltsamen Anblick: Kleine Mauern stecken riesige „Felder“ ab, dünne Holzpfähle ragen knapp über die Wasserlinie. Seit 1986 züchtet hier auf 10.000 Hekter das sino-japanische Joint-venture „Nantua“ Perlen für den Export. 3.000 Stück werden jährlich geerntet. Mit der „Perlenkönigin“, 15 Gramm schwer bei einem Durchmesser von 30 Millimeter, gelang „Nantua“ der bisher ungeschlagene Landesrekord.

In Linshui leert sich der Bus. Besonders chinesische Flitterwöchler greifen schnell nach ihren Taschen, winken, nehmen Abschied. Unter lautem Gelächter steigen sie in den wartenden Überlandbus ein. Eine gute Stunde holpert dieses klapprige Gefährt über Nebenstraßen, die Klimaanlage arbeitet auf Hochtouren, surrend, laut, aber wenig effektiv. Der Bus überquert einen Fluß, dann eine schmale Landzunge und hält plötzlich abrupt vor einem Toreingang. Wir sind auf Nanwan, dem „Monkey Island“. Hinter den kühlen Marmormauern verbirgt sich die Hauptattraktion Hainans für frischverheiratete Paare. Hunderte von Affen, zumeist Gibbons, sausen über künstliche Felsen, verstecken sich hinter Büschen und tollen mit den Besuchern, die sich vergeblich bemühen, die frechen Gesellen beim Gruppenfoto mit aufs Bild zu bannen. Da hilft auch kein Füttern mit Hülsenfrüchten oder Nüssen...

Nachts Ankunft in Dadonghai. Sternenklar ist die Nacht, nur die helle Lichterkette der Fischer beleuchtet die weitgeschwungene Bucht. Beim ersten Morgengrauen zerreißt das laute Knattern ihrer Außenbordmotoren die Stille. Schwerbeladen mit Thun- und Tintenfisch, Katzenhaien und Seegurken kehren die Genossenschaftsfischer heim; ihre handgeflochtenen Bambuskörbe voller Garnelen, Langusten, Austern, Krabben und Hummer.

Dann wieder Stille. Erst nach zehn Uhr beginnt das Leben am Strand. Aus den Bambushütten kommen Engländer, Australier, Neuseeländer, Deutsche. Zehn oder zwölf, kaum einer über dreißig, sitzen sie auf selbstgebauten Stühlen aus Eimern und Ziegeln und erzählen ihre Geschichten: von den Ratten, die nachts in die Hütten dringen und am Bettgestell nagen, von Touren durch Laos, Birma und das nahe Vietnam. Kaffee macht die Runde.

Dann gehts zum Baden nach Yalong Bay, eine malerische Bucht, die sich nördlich an den Dadonghai- Strand anschließt. Der sieben Kilometer lange Küstenstreifen ist nur noch für kurze Zeit unerschlossenes Idyll: Ein weißes Band, das mit majestätischen Kokospalmen und vereinzelten, schwarz wirkenden Vorbergen aus Laterit verziert ist. Doch die Planer liebäugeln mit Yalong Bay. Noch laufen erst die Projektierungsarbeiten für ein internationales Touristenzentrum, noch buddeln hier keine Bagger. Fok Ying Tung, Geschäftsmann aus Hongkong, hat als erster bereits 6,74 Millionen US- Dollar in dieses Zentrum investiert.

In Sanya, der südlichsten Stadt der Insel, leben rund 50.000 Einwohner, die Hälfte davon auf dem Wasser. Der bläulich schimmernde Flußlauf, auf dem malerisch die Hausboote dümpeln, mächtige Dschunken mit schwarz-roten Segeln vor Anker liegen, erweist sich beim näherkommen als eine stinkend schwarze Brühe.

Zwei Yuan Tribut fürs Paradies

Rund 30 Kilometer westlich von Sanya liegt Chinas berühmtestes Fleckchen Erde: Tianya Haijiao — das Ende der Welt. Zwei Yuan fordert die resolute Kassiererin als Tribut fürs Paradies. Zu Recht: Palmen säumen den goldgelben Sandstrand, sanft brandet das azurklare Wasser, gut 20 Grad warm, gegen die riesigen Granitfelsen. Noch haben keine Tourismusstrategen den Strand entdeckt, wohl aber einheimische Marketenderinnen. „Real pearls“, rufen sie, „echte Perlen“ — beim Beißtest schmecken sie nach Plastik. Kaum werden die jungen Frauen mit eindeutigen Gesten, auf die sie wortgewaltig und ebenso eindeutig antworteten, abgewimmelt, kommen junge Männer mit geschmückten Mauleseln daher. Sie bieten Strandritte für wenige Yuans an.

Tagestouren führen auf schmalen Sandwegen durch das nahe Küstengebirge, vorbei an Reisterrassen und ausgedehnten Teeplantagen. Hohe ganzjährige Niederschläge und gute vulkanische Böden garantieren selbst in den kleinsten, kargsten Privatgärten überdurchschnittlich gute Ernten. Mango, Ananas und Bananen werden angebaut, Tee, Kaffee und Pfeffer. Im Schwemmland rings um Wenchang im Norden werden beispielsweise jährlich allein über 60 Millionen Kokosnüsse gepflückt. Verarbeitet wird die reiche Ernte in der Haikouer Konservenfabrik: Ihre Kokosmarmelade, ihre neu entwickelten Kokoschips und ihre Kokosmilch sind echte Spezialitäten Hainans und einmalig auf der Welt.

Die Straße zurück nach Haikou führt weiter durch das Gebirge. Die Orte, die der Bus durchfährt, ähneln sich, sind nahezu austauschbar. Immer bestimmt eine Stelle, bekrönt vom Emblem der Kommunistischen Partei Chinas, das Dorfzentrum, dahinter liegen Polizei, eine Filiale der Agricultural Bank of China, die Dorfschule. Rund um den Busstopp haben mobile Händler ihre Fahrradküchen aufgestellt. In Windeseile fertigen sie hauchdünne Pfannkuchen, gefüllt mit Maisfladen, jungen Zwiebeln und einer scharfen Chilisauce. „Einen Yuan, ,longwan‘ — Langnase...“ In den riesigen Aluminiumkesseln, die auf unscheinbar kleinen Gaskochern ruhen, schwimmen kleine Hefebeutel mit einer Füllung aus Schweinefleisch oder Gemüse.

Im ersten Morgengrauen erreicht der Nachtbus Haikou, Ausgangs- und Endpunkt jeder Hainan-Rundreise. Die Schatten des Ankunftstages sind längst verflogen, die goldenen Sandstrände, die nebelumwobenen Berge des Wuzhi Shan, die lauten und quirligen Städte und Dörfer haben sie verdrängt.

Informationen:

Anreise: Zur Einreise von China aus ist ein Visum erforderlich, für alle anderen Staaten genügt ein gültiger Reisepaß. Flug: Direktflüge nach Haikou zweimal wöchentlich ab Peking, Shanghai, Chengdu und Hongkong. Schiff: Tägliche Verbindung nach Haikou von Zhanjiang, Hai'an, Kanton; achtmal monatlich direkt von Hongkong; von Sanya aus bestehen einmal wöchentlich Verbindungen nach Kanton, zweimal im Monat legt das Schiff nach Hongkong ab.